Der leiseste Verdacht
Anitas Vater bei der Stockholmer Polizei angestellt war. Eines Tages hatte er diesen Gedanken erstmals laut ausgesprochen. Wenn er sich bei der Polizei bewarb, sollte einem raschen Aufstieg nichts im Wege stehen. Er hatte es satt, von seinem Vater und seiner Schwiegermutter abhängig zu sein, und wollte endlich sein eigenes Geld verdienen. Deshalb wählte er für seine schriftliche Abschlussarbeit das Thema »Die Machtmittel der Polizei in Relation zur Rechtssicherheit des Individuums«.
Er erinnerte sich noch genau, wie gedemütigt er sich gefühlt hatte, als er PM seinen Entschluss mitteilte. Der Freund hatte ihn kopfschüttelnd angeschaut und ausgerufen: »Du willst Bulle werden? Wie zum Teufel sollen wir dann noch normal miteinander umgehen können?« PMs Enttäuschung war
unverkennbar gewesen. Fast schien es so, als müsse er seinen Freund damit verloren geben.
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Aber ihre Freundschaft bestand auch diese Prüfung. Zwar konnte sich PM auch später ironische Bemerkungen zu Roffes Berufswahl nicht verkneifen, doch waren sie stets von der gutmütigen Sorte, und seine eigene Karriere bespöttelte er nicht minder.
Nach zehn Jahren bei der Stockholmer Polizei war alles so gekommen, wie er vorausgesehen hatte. Er war
erwartungsgemäß die Karriereleiter emporgekrabbelt, Anita und er waren in ein größeres Haus in Bromma übergesiedelt, und ihr drittes Kind, Camilla, wurde in eine Familie hineingeboren, die ihre ersten Krisen hinter sich und ihre Schäfchen einigermaßen im Trockenen hatte. Anita und er beherrschten inzwischen sogar die Kunst, den Eindruck einer intakten Familie zu vermitteln, zumindest nach außen hin. Er verdiente das Geld, und sie kümmerte sich darum, dass zu Hause alles funktionierte. Doch Roffe stellte sich zunehmend die Frage, ob dies der eigentliche Sinn allen menschlichen Strebens war. Natürlich war es das nicht. Die Freunde, mit denen er dieses Thema erörterte, versicherten ihm einhellig, er habe nur die Voraussetzungen für die wirklich wichtigen Dinge des Lebens geschaffen. Aber diese ließen auf sich warten, und schließlich dämmerte ihm, dass sie sich nicht offenbaren würden, falls er nicht zu einer radikalen Änderung bereit war. Und das Radikalste, was ihm in dieser Zeit einfiel, war eine Bewerbung bei der Polizei in Christiansholm.
Eine Anstellung bei der dortigen Behörde würde ihn zumindest zeitweise von den Fesseln seiner bürgerlichen Existenz befreien, die er so hartnäckig aufgebaut und verteidigt hatte. Im Grunde seines Herzens war er ein geselliger Eremit, der gegen eine Familie nichts einzuwenden hatte, solange er nicht mit ihr unter einem Dach leben musste. Die Rolle dessen, der seine Angehörigen schnöde im Stich lässt, nahm er gern an und gönnte seiner Frau all die Sympathie und das Mitleid, die ihr von Freunden und Verwandten entgegenschlugen.
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Nach einer Weile stellte er fest, dass die Idee, sechshundert Kilometer zwischen sich und die Familie zu legen, für alle von großem Nutzen war. Anita war aufgeblüht und widmete sich auf einmal verschiedensten Interessen. Seine Kinder sah er mehrmals im Jahr und hatte mit ihnen eine sehr viel schönere Zeit als damals, als er noch unglücklich in Stockholm mit ihnen zusammengelebt hatte. Richtig glücklich war er zwar auch in Christiansholm nicht, doch hier konnte er seinen irrationalen Impulsen nachgeben, ohne so vielen Menschen auf die Zehen zu treten. Seine einzige Belastung waren die ewigen Ferien, weil Anita darauf bestand, sie auch weiterhin für die gesamte Familie zu organisieren. Aber auch das würde eines Tages ein Ende haben. Bald würden die Kinder zu rebellieren beginnen, und dann …
Als Roffe an Knigarps Schweineställen vorbeirollte, drängten die Probleme der Gegenwart drastisch in sein Bewusstsein zurück. Er drosselte das Tempo und bog in den Weg ein, der zu PMs Haus führte.
Als er aus dem Auto stieg, trat PM aus der Tür. Für einen Moment sahen sie sich in die Augen, und Roffe registrierte beklommen, dass sie beide es eilig hatten, den Blick abzuwenden. Schlechte Nachrichten lagen in der Luft, und keiner von ihnen wollte es sich anmerken lassen. Eine Plastiktüte in jeder Hand, betrachtete Roffe den Vorgarten. Er hatte keinesfalls vor, mit der Tür ins Haus zu fallen. Zunächst sollten sie in Ruhe miteinander essen. Er sog den betörenden Blumenduft ein.
»Narzissen«, sagte er.
»Kann sein«, entgegnete PM vage.
Er stand immer noch mit nahezu abweisender Miene an der Treppe und hatte
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