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Der letzte Agent

Der letzte Agent

Titel: Der letzte Agent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacques Berndorf
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wie ein Fuchs. Irgendetwas regte sie auf. Ich kletterte also langsam weiter und konnte nicht erkennen, auf was sie mich hinweisen wollte. Dann lief sie in meiner Kopfhöhe über einen Stamm, wand sich elegant zwischen Ästen hindurch, sprang auf den Boden und verschwand hinter einem Vorhang aus Zweigen. Ihr Maunzen war jetzt recht laut. Wahrscheinlich hatte es dort ein Tier erwischt, vielleicht irgendein Kadaver.
    Hinter den Zweigen war eine winzige freie Fläche mit sehr dichtem, langem Gras. Der Mann lag dort, als habe er sich ein Nest gebaut. Eigentlich lag er nicht, er saß. Bequem gegen einen Vorhang aus frischen Tannenästen zurückgelehnt, wirkte er wie ein zufriedener Jogger, der sich eine Pause gönnt. Er trug Laufschuhe von Puma mit hellgrünen Ledereinsätzen, einen rotblauen Jogginganzug, auf dem vorne in eindringlich großen Buchstaben das Wort BOSS stand. Die Beine waren gespreizt. Er hatte das Kinn auf die Brust gelehnt, man blickte auf einen kantigen Schädel mit grauen Haaren, die oben licht wurden. Ich sagte: »Heh!«, obwohl ich in der gleichen Sekunde wusste, dass das sinnlos war.
    Der Mann war tot.
    Ich bewegte mich vorsichtig auf ihn zu, und ich spürte, wie mein Magen zu revoltieren begann. Krümel hielt sich hinter mir und schmiegte sich unentwegt an meine Beine. Sie hatte den Tod gerochen, sie hatte den Windbruch nicht betreten wollen.
    Ich nahm vorsichtig den Kopf des Mannes ein wenig hoch. Das Gesicht war vollkommen weiß, die Oberlippe ein wenig hochgezogen, das Zahnfleisch schneeweiß.
    »Infarkt oder so was«, sagte ich laut und hilflos. Krümel lief hinter dem Toten durch den Vorhang der Äste und war verschwunden. »Bleib doch hier«, rief ich ihr nach, nur um diese verdammte Stille zu zerstören.
    Ich starrte den Mann an, der vielleicht fünfzig Jahre alt geworden sein mochte. Vielleicht hatte er dasselbe tun wollen wie ich, vielleicht hatte er nichts als die jungenhafte Lust verspürt, diesen zerstörten Wald zu durchklettern. Dann hatte es ihn erwischt. War es ein schöner Tod gewesen, schnell, ohne Schmerzen, inmitten einer Natur, die den Sommer atmet? Sein Gesicht sah nicht so aus, als habe er Schmerzen gehabt, aber das konnte eine Täuschung sein, schon lebende Gesichter sind Masken.
    Krümel kam wieder und leckte sich umständlich beide Vorderpfoten. »Was glaubst du, wie lange liegt der hier?« In den Nächten war es kühl gewesen, sehr kühl. »Es kann Tage her sein, vielleicht eine halbe Woche. Wir sollten Rüdiger rufen. Eigentlich müssten wir die Polizei rufen.« Dann fiel mir auf, dass der Tote eine gewaltige Wampe hatte, einen überdimensionalen Schmerbauch, dass er diesen mit beiden Händen festhielt, wie Schwangere es zuweilen tun, wenn die Niederkunft kurz bevorsteht. Der dicke Bauch stand in einem krassen Gegensatz zu seinem zwar breitflächigen, aber insgesamt mageren Gesicht.
    Ich griff an seine Hände und versuchte sie beiseite zu drücken. Das war schwer, weil sie ineinander verschränkt waren.
    Ich bog den rechten Arm zur Seite, dann den linken. Ich zog das Oberteil des Jogginganzuges hoch und atmete hörbar ein. Der Bauch war eine einzige Wunde, ein erstarrtes blutiges Feld. Aber dieses Blut war nicht blutrot, auch nicht schwarz. Dieses Blut war rosig.
    »Lass uns Hilfe holen«, sagte ich meiner Katze. »Das rühre ich nicht an. Das ist sonderbar, das ist sehr sonderbar.«
    Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie ich aus dem Windbruch herauskroch. Ich weiß nur, dass Krümel in den Wagen sprang und sich auf die hintere Bank zurückzog, wie sie es immer macht, wenn sie sich bedroht fühlt. Ich startete den Motor und schaltete Funk ein. Ich ging normal über Kanal neun. »Siggi eins hier. Ich rufe dringend Feststation Beta eins. Bitte melden.« Dann kam eine Frauenstimme. Sie klang hoch und verzerrt, und ich sagte schnell: »Gehen wir auf Kanal zehn.«
    Auf dem Zehner hörte ich sie klar. »Ist der Chef in der Praxis?«
    »Ja, ich hole ihn.« Nach einer Weile meldete sich Rüdiger Sauer, unser Landarzt.
    »Sie sollten schnell herkommen«, sagte ich. Ich beschrieb ihm, wo ich war, und er fragte nicht, sondern versicherte nur, er würde sich beeilen. Ich hockte mich auf einen Fichtenstapel und rauchte vor mich hin. Wie kann jemand einen offenen Bauch haben, der rosig aussieht? Rosig mit weißen Streifen?
    Es dauerte zwanzig Minuten, bis er kam, und als er mein Gesicht sah, fragte er: »Ein Selbstmörder?«
    »Nein, das glaube ich nicht. Ein Jogger oder so was in der

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