Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der letzte Beweis

Der letzte Beweis

Titel: Der letzte Beweis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Turow
Vom Netzwerk:
oder?«, fragt Nat, womit er meint, dass ich mich aus dem Fall zurückziehen werde. Nat wohnte noch bis nach seiner Collegezeit bei uns, und in jenen Jahren kam es selten vor, dass sich unser Sohn inhaltlich in ein Gespräch einmischte. Normalerweise nahm er mehr oder weniger die Rolle des Kommentators ein, der nur gelegentlich Bemerkungen dazu machte, wie seine Mutter oder ich uns äußerten, »Toll, Dad«, oder »Sag uns, wie du wirklich empfindest, Mom«, offensichtlich, um zu verhindern, dass sie oder ich das labile Gleichgewicht zwischen uns zerstörten. Ich fürchte schon, dass dieses Vermitteln zwischen seinen Eltern zu den Dingen gehört, die den Weg für Nat schwerer gemacht haben. Mittlerweile jedoch spricht Nat mich öfter von sich aus auf juristische Fragen an und liefert mir dadurch einen kostbaren Zugang zu dem wachen Geist meines dunklen, eigenbrötlerischen Sohnes.
    »Sinnlos«, sage ich. »Ist schon beschlossen. Könnte höchstens noch sein, auch wenn die Chance gering ist, dass George Mason umschwenkt. Außerdem hat der Mann nicht versucht, über die Gründe für seine Berufung zu reden.« Hinzu kommt, dass die meisten meiner Kollegen am Gericht argwöhnen würden, dass ich den Fall nur abgebe, weil ich mitten im Wahlkampf stecke und mich nicht dafür aussprechen möchte, eine Verurteilung wegen Mordes aufzuheben, weil so etwas in der Öffentlichkeit nie gut ankommt.
    »Dann hattest du also einen ereignisreichen Nachmittag«, sagt Barbara.
    »Und das war noch nicht alles«, sage ich. Diese Erklärung ruft mir Annas Kuss wieder in Erinnerung, und aus Angst, rot geworden zu sein, erzähle ich von meiner Besprechung mit Raymond. »Koll hat angeboten, sich aus den Vorwahlen zurückzuziehen.«
    Koll ist N.J. Koll, juristisches Genie und aufgeblasener Blödmann in einem, und er saß früher zusammen mit mir im Berufungsgericht. Ich rechne damit, dass N.J. bei den Vorwahlen im nächsten Februar mein einziger Gegner sein wird. Dank der Unterstützung durch die Partei bin ich sicher, ihn vernichtend zu schlagen. Aber dafür müsste ich im kommenden Jahr viel Zeit und Geld investieren. Da die Republikaner in dieser Einparteienstadt bislang nicht mal einen Kandidaten aufgestellt haben, wäre mir durch N.J.s Rückzug der Sitz im Obersten Bundesstaatsgericht sicher, den selbst die Zeitungen ungeniert als den »Sitz des Weißen Mannes« bezeichnen, im Unterschied zu den beiden anderen Sitzen von Kindle County, die traditionsgemäß von einer Frau und einem Afroamerikaner besetzt werden.
    »Großartig!«, sagt meine Frau. »Was für ein schönes Geburtstagsgeschenk. «
    »Zu schön, um wahr zu sein. Er verzichtet nur, wenn ich mich dafür einsetze, dass er leitender Richter am Berufungsgericht wird.«
    »Und?«, fragt Barbara.
    »Das kann ich weder George antun noch dem Gericht.« Als ich an das Gericht kam, war es ein Altenheim für Parteiproteges, die allzu gern ein offenes Ohr für die falsche Art von Vorschlägen hatten. Heute, nach meinen zwölf Jahren als Chefrichter, kann sich das Berufungsgericht des dritten Bezirks einer hervorragenden Besetzung rühmen, deren Urteilsbegründungen gelegentlich in juristischen Lehrbüchern erscheinen und von anderen Gerichten im ganzen Land zitiert werden. Mit seinen absurden Überspanntheiten würde Koll im Handumdrehen alles zunichtemachen, was ich aufgebaut habe.
    »George weiß, wie Politik funktioniert«, sagt Barbara. »Und er ist dein Freund.«
    »George weiß nur eines«, kontere ich, »dass er es verdient hat, Chefrichter zu werden. Wenn ich nicht ihm, sondern Koll helfen würde, hätten alle Richter das Gefühl, dass ich ihnen in den Rücken falle.«
    Mein Sohn hatte Seminare bei Koll an der juristischen Fakultät des Easton College, wo N.J. ein angesehener Professor ist, und er ist zu der allgemein verbreiteten Einschätzung gelangt.
    »Koll ist ein Scheißspinner«, sagt Nat. »Bitte«, sagt Barbara, die beim Essen noch immer Wert auf Etikette legt.
    N.J., ein Mensch mit wenig Taktgefühl, hat sein Angebot mit einer Drohung untermauert. Falls ich nicht einwillige, wird er die Partei wechseln und bei der Stichwahl im November '08 als Kandidat der Republikaner antreten. Das wird seine Chancen nicht verbessern, aber meine Belastung erhöhen und wäre die größtmögliche Bestrafung dafür, dass ich ihn nicht zum Chefrichter gemacht habe.
    »Dann gibt's also einen Wahlkampf?«, fragt Barbara beinahe ungläubig, als ich das alles erkläre.
    »Falls Koll nicht

Weitere Kostenlose Bücher