Der letzte Beweis
Mom war seit Jahren wegen ihrer bipolaren Störung in Behandlung, wissen Sie, und manchmal merkt man ihr an, dass sie es nicht leicht hat. Merkte man ihr an.« Ich verzog das Gesicht wegen der Vergangenheitsform. »Eigentlich kam mir alles ziemlich normal vor. Meine Mom war ein bisschen aufgekratzt, würde ich sagen, und mein Dad war stiller als normal, und meine Freundin war nervös.«
»Sie haben gesagt, Sie waren zum Abendessen da«, sagte Detective Diaz. »Wissen Sie noch, was es zu essen gab?«
»Zu essen?«
Sie blickte auf ihren Notizblock. »Genau, irgendwer will wissen, was Sie gegessen haben.« Sie zuckte die Achseln, nach dem Motto: Fragen Sie mich nicht, ich mache bloß meine Arbeit.
Das war das letzte Mal, dass ich meine Mom sah, deshalb war mir der Abend seit Wochen immer wieder durch den Kopf gegangen. Es fiel mir leicht, die Fragen zu beantworten, wer was zubereitet und was wir gegessen hatten, aber ich verstand nicht, wieso, und irgendwann dämmerte mir allmählich, dass ich besser den Mund halten sollte.
»Und wer hat Ihrer Mom beim Essen den Wein eingeschenkt? War das auch wieder Ihr Dad?«
Ich bedachte Detective Diaz mit einem vielsagenden Blick.
»Ich versuche bloß, jede Frage abzudecken, die irgendwer möglicherweise stellen könnte«, sagte sie. »Ich möchte Sie nicht noch einmal behelligen müssen.«
»Wer hat beim Essen den Wein eingeschenkt?«, überlegte ich laut, als wüsste ich es nicht mehr genau. »Vielleicht mein Dad. Er hat so einen speziellen Korkenzieher, mit dem meine Mom nie zurechtgekommen ist. Aber ich bin mir nicht sicher. Vielleicht war ich es sogar.«
Debby Diaz stellte noch ein paar Fragen, auf die ich ähnlich vage antwortete. Inzwischen hatte sie wahrscheinlich gemerkt, dass ich ihr was vormachte, aber das war mir egal. Schließlich schlug sie sich klatschend auf die Oberschenkel und ging zur Tür. Kaum hatte sie sie geöffnet, schnippte sie mit den Fingern.
»Ach übrigens, wie heißt Ihre Freundin? Vielleicht muss ich auch noch mit ihr reden.«
Ich hätte fast aufgelacht. Tolle Polizistin. Steht in der Wohnung der Frau und hat keine Ahnung. Aber ich schüttelte den Kopf, als könnte ich die Frage nicht beantworten. Darauf sah Diaz mich richtig durchdringend an. Wir hatten beide aufgehört, so zu tun, als ob.
»Tja, es kann ja kein Geheimnis sein«, sagte sie. »Zwingen Sie mich nicht dazu, es selbst rausfinden zu müssen.«
Ich sagte ihr, sie solle ihre Karte dalassen und ich würde sie an meine Freundin weiterleiten.
Noch ehe Detective Diaz unten durch die Lobby war, hatte ich meinen Dad schon auf seiner direkten Durchwahl erreicht. Er war gleich bei Öffnung der Wahllokale wählen gegangen und dann weiter zur Arbeit gefahren, als wäre es ein ganz normaler Tag, obwohl es in dieser Phase für keinen von uns beiden normale Tage gab.
Er klang richtig froh, als er meine Stimme hörte. So klingt er immer, wenn ich anrufe. Aber ich konnte kurz nicht sprechen. Bis zu diesem Moment war mir nicht richtig klar gewesen, was ich sagen würde.
»Dad«, sagte ich. »Dad, ich hab große Angst, dass du in Schwierigkeiten steckst.«
Kapitel 24
Tommy, 22. Juni 2009
Tommy Molto hatte Sandy Stern schon immer mit gemischten Gefühlen betrachtet. Sandy war gut, keine Frage. Ein Schuster, der stolz auf sein Handwerk war, bewunderte ja auch einen anderen, der aus makellosem Leder Schuhe fertigte, die hart wie Eisen waren und sich am Fuß wie Samt anfühlten. Sandy war ein Maestro im Gerichtssaal. Er war argentinischer Abstammung und in den 1940ern während der Unruhen um Perón in die Vereinigten Staaten gekommen, und auch sechzig Jahre später spielte er noch den gelackten lateinamerikanischen Gentleman, mit einem ganz leichten Akzent, der seine Sprache würzte wie eine exotische Zutat - Trüffelöl oder Meersalz -, und mit Manieren wie der Empfangschef eines Luxushotels. Seine Masche kam dieser Tage besser an denn je, weil seine gelegentlichen halblauten Bemerkungen en espanol von mindestens zwei oder drei Geschworenen für die anderen übersetzt werden konnten.
Aber bei Sandy musste man aufpassen. Weil er so elegant wirkte, so korrekt, sah man ihm mehr nach als einem kleinen Anwalt, der bloß Kleinkriminelle vertrat. Tommy wusste, dass der ganze Schwachsinn, der ihm während Rusty Sabichs erstem Prozess um die Ohren geflogen war, die subtilen Vorwürfe, er wäre daran beteiligt gewesen, die Beweislage zu verfälschen, von Sandy ausgebrütet worden war, der sich
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