Der letzte Beweis
unmissverständlich verkündete: Ich hab hier das Sagen, mach mir keinen Ärger.
»Meine Mom ist an Herzversagen gestorben«, sagte ich.
»Stimmt.«
»Und? Was gibt's da zu fragen?«
»Nat«, sagte sie. »Ich darf Sie doch >Nat< nennen, oder? Jemand hat gesagt, wir müssen den Sohn vernehmen, um das abzuschließen, also bin ich hier, um Sie zu vernehmen. Mehr nicht.« Sie griff nach einer Illustrierten, einer Ausgabe von People, die Anna dort liegen gelassen hatte, und blätterte ein paar Seiten um. »Was interessieren mich Brad und Angelina?«, fragte sie, ehe sie die Zeitschrift wieder fallen ließ. »Sind Ihre Eltern in den letzten Jahren gut miteinander ausgekommen?«
Ich musste unwillkürlich lächeln. Das war eine gute Beschreibung für das Verhältnis zwischen meinen Eltern - die meiste Zeit kamen sie miteinander aus. In ihren getrennten Leben.
»Wie immer«, antwortete ich.
»Aber sie hatten keinen Krach untereinander oder mit Ihnen?«
»Alles wie gehabt.«
»Und wie geht's Ihrem Dad jetzt? Noch ziemlich fertig?« Sie hatte von irgendwo einen kleinen Spiralblock hervorgeholt und notierte sich etwas.
»Mein Dad ist ziemlich stoisch. Ich meine - ich weiß nie so richtig, was in ihm vorgeht. Aber ich denke, wir stehen beide noch ziemlich unter Schock. Er hat seinen Wahlkampf mehr oder weniger auf Eis gelegt. Wenn er mich gefragt hätte, hätte ich ihm gesagt, er soll mehr machen, um sich abzulenken.«
»Hat er eine Freundin?«
»Meine Güte, nein.« Dass mein Vater etwas mit einer anderen Frau anfangen könnte, ein Gedanke, den einige gehirnamputierte Menschen in den Wochen nach dem Tod meiner Mom geäußert hatten, wühlte mich jedes Mal auf.
»Kommen Sie mit Ihrem Dad klar?«, fragte sie.
»Natürlich«, sagte ich. »Sind Sie deshalb hier? Geht's um meinen Dad? Macht ihm irgendwer Ärger?«
Als ich in die zweite Klasse ging, wurde mein Vater unter Mordanklage gestellt. Im Rückblick staune ich immer wieder, wie lange ich brauchte, bis ich die ganze Dimension dieser einfachen Feststellung erfasste. Damals erzählten mir meine Eltern, mein Dad hätte einen schlimmen Streit mit einem seiner befreundeten Kollegen gehabt, so wie ich manchmal schlimmen Streit mit Freunden in der Schule hatte, und dass die früheren Freunde jetzt böse auf ihn wären und gemeine, unfaire Dinge machten. Ich akzeptierte das natürlich - akzeptiere es eigentlich bis heute. Aber ich spürte, dass mehr dahintersteckte, schon allein weil mich alle Erwachsenen, die ich kannte, auf einmal vorsichtiger behandelten, als stünde ich auch unter irgendeinem Verdacht - die Eltern meiner Freunde, die Lehrer in der Schule und vor allem meine Eltern, die mich kaum aus den Augen ließen, als steckte mir irgendeine furchtbare Krankheit in den Knochen. Mein Dad ging nicht mehr zur Arbeit. Eines Tages schwärmte ein Trupp Polizisten durch unser Haus. Und irgendwann erfuhr ich, entweder durch gezielte Fragen oder zufällig, dass meinem Vater was sehr Schlimmes passieren könnte - dass er vielleicht viele Jahre fortmusste und möglicherweise nie wieder mit uns zusammenleben würde. Er war vor Furcht gelähmt; das spürte ich. Und meine Mutter auch. Und so packte auch mich die nackte Angst. Sie schickten mich den Sommer über in ein Ferienlager, wo ich noch mehr Angst bekam, weil ich nicht zu Hause war. Ich spielte Baseball oder tobte mit Freunden herum, doch ständig überfiel mich das Gefühl, dass zu Hause vielleicht gerade etwas Schreckliches geschah. Jede Nacht weinte ich mir die Augen aus, bis man beschloss, mich zurückzuschicken. Und als ich nach Hause kam, war diese Sache, die sie Prozess nannten, vorüber. Alle wussten, dass mein Vater nichts Böses getan hatte, dass seine früheren Freunde diese bösen Sachen gemacht hatten, genau wie meine Eltern immer gesagt hatten. Aber es war immer noch nicht alles in Ordnung. Mein Dad arbeitete nicht. Und irgendwie konnten meine Eltern nicht mehr normal miteinander umgehen. Es war keine Überraschung für mich, als meine Mom mir eröffnete, wir beide würden wegziehen. Ich hatte die ganze Zeit gewusst, dass irgendeine Katastrophe passiert war.
»Denken Sie, Ihr Dad hat Ärger verdient?«, fragte Detective Diaz.
»Selbstverständlich nicht.«
»Wir erfinden nichts«, sagte sie. Ich hatte mich noch nicht hingesetzt, und sie zeigte wieder auf den Stuhl, diesmal mit einem Stift. »Jemand wie Ihr Dad, der schon ewig und drei Tage dabei ist, da hat so jeder seine Meinung. Manche Leute, wissen
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