Der letzte Beweis
in den Jahren danach Tommy gegenüber verhalten hatte, als wäre nichts von Bedeutung passiert, als hätte er in Tommys Leben nicht einen Makel hinterlassen, der bis heute nicht getilgt war.
Derzeit führte Sandy einen Kampf gegen den Krebs. Seinem Aussehen nach zu urteilen, stand es nicht gut um ihn. Er hatte eine Yul-Brynner-Frisur und bestimmt dreißig Kilo abgenommen, und von den Medikamenten hatte er einen Ausschlag bekommen, der ihm regelrecht eine Feuerspur durchs Gesicht zog. Gerade eben, ehe die Verhandlung weiterging, hatte Tommy Sandy gefragt, wie es ihm ging.
»Stabil«, sagte Sandy. »Ich wehre mich. In ein paar Wochen wissen wir mehr. Die letzte Therapie hat ganz gut angeschlagen. Auch wenn ich jetzt aussehe wie eine Figur aus Star Wars.« Er zeigte auf seine Wange.
»Ich schließe Sie in meine Gebete ein«, sagte Tommy. So ein Versprechen gab er nie, ohne es auch zu halten.
Aber so war das mit Sandy Stern. Man betete für seine Seele, und er fiel einem in den Rücken. Der Angeklagte trat nie als Erster in den Zeugenstand. Der Beschuldigte war in einem Prozess immer der letzte Akt, die Hauptattraktion, und er kam erst im allerletzten Augenblick zum Einsatz, damit die Entscheidung, als Zeuge aufzutreten, im Lichte der gesamten Beweisführung getroffen werden konnte und der Angeklagte bei den Geschworenen den größten Eindruck hinterließ, ehe die sich zur Beratung zurückzogen. Nicht dass Tommy völlig überrascht gewesen wäre. Er hatte schon die ganze Zeit mit Rustys Auftritt gerechnet, schon seit Richter Yee in der Vorverhandlung, im Richterzimmer, außer Hörweite der Presse, entschieden hatte, dass nichts aus dem ersten Prozess - weder die DNS-Ergebnisse noch der Mord an Carolyn Polhemus noch irgendetwas über das damit verbundene Gerichtsverfahren - in diesem Gerichtssaal zur Sprache kommen durfte. Aber Tommy hatte vorgehabt, die kommenden Nächte zu opfern, um sich gründlich vorzubereiten, Rustys Kreuzverhör genau zu planen und mit Brand durchzuspielen. Jetzt jedoch würde es genauso sein wie zu Tommys Zeit am Drogengericht vor dreißig Jahren, als er so viele Fälle gleichzeitig betreute, dass er sich auf keinen richtig vorbereiten konnte und seine Kreuzverhöre intuitiv führen musste. Wenn damals tatsächlich mal ein Angeklagter in den Zeugenstand trat, hätte man ihn am liebsten als Erstes nach seinem Namen gefragt, der einem entfallen war.
Während Tommy am Tisch der Anklagevertretung stand und so tat, als ginge er seine Unterlagen noch einmal durch, als gäbe es in seinen hastig hingekritzelten Notizen tatsächlich eine bestimmte Ordnung, überkam ihn eine Ruhe, die ihn schon den ganzen Fall hindurch begleitet hatte. Niemand würde je behaupten, dass Tommy im Gerichtssaal einen gelassenen Eindruck machte, in diesem Prozess ebenso wenig wie in anderen. Aber anders als sonst in den letzten Jahren, wo er während laufender Verfahren nachts regelmäßig von Ängsten heimgesucht wurde und mehrmals aufstand, war er jetzt mehr oder weniger entspannt und konnte neben Dominga die Nacht durchschlafen. Er wusste, die Auswirkungen, die dieses Urteil auf seine Zukunft und die seiner Familie haben würde, darauf, wie er für den Rest seines Lebens wahrgenommen werden würde, waren so groß, dass er sie schlicht als den Willen Gottes hinnehmen musste. Normalerweise hielt er nichts von der Vorstellung, dass Gott Seine Zeit damit vergeuden könnte, sich um ein so unbedeutendes Wesen wie Tommy Molto zu kümmern. Aber wieso hätten Rusty und er sich entgegen aller Wahrscheinlichkeit ein zweites Mal vor Gericht begegnen sollen, wenn der Ausgang des ersten Prozesses nicht gegen irgendeinen Grundsatz göttlicher Gerechtigkeit verstieß?
Zudem war Tommys Gefühlslage dadurch gefestigt worden, dass die Beweisführung der Anklage doch ein hübscheres Päckchen ergeben hatte, als er erwartet hatte. Tommy war seit dreißig Jahren Ankläger, und er wusste, wie wichtig es war, in dieser Phase der Verhandlungen an sich selbst zu glauben. Selbst im Griff der Paranoia musste man auf seinen Sieg vertrauen, sonst hatte man nicht die geringste Chance, die Geschworenen zu überzeugen. Und er war argwöhnisch. Noch war nicht abzusehen, was Stern vorhatte, doch aufgrund seiner langjährigen Erfahrung mit dem Mann erwartete Tommy das Unerwartete.
Das Eröffinungsplädoyer, das Stern vor zwei Wochen bei Prozessbeginn gehalten hatte, war ein fades Mantra von »begründeten Zweifeln«, in dem Stern nicht weniger als acht
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