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Der letzte Beweis

Der letzte Beweis

Titel: Der letzte Beweis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Turow
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Aids hat. Die Leute wissen, dass du eigentlich nichts Falsches getan hast, können aber trotzdem den Impuls, zurückzuschrecken, nicht ganz unterdrücken.
    Doch das Schlimmste ist das, was in mir selbst abläuft, denn ich weiß von einem Moment auf den anderen nicht, wie ich mich fühle oder auch fühlen sollte. Wahrscheinlich sind Eltern immer bewegliche Objekte. Wir wachsen heran, und unsere Perspektive ändert sich laufend. In diesem Gerichtssaal gibt es nur eine Frage - hat er es getan oder nicht? Aber ich stehe schon seit Monaten vor einem weit komplizierteren Problem, weil ich versuche, etwas herauszufinden, wofür die meisten Kinder ein Leben lang Zeit haben - nämlich wer mein Alter Herr in Wirklichkeit ist. Nicht der, für den ich ihn gehalten habe. Zumindest das habe ich inzwischen erkannt.
    Dieser Prozess begann am Wahltag mit einem wütenden Hämmern an Annas Wohnungstür. Eine kleine Frau hatte ihre Dienstmarke gezückt.
    »KCP.« Kindle County Police. »Hätten Sie vielleicht einen Moment Zeit?«
    Es war wie im Fernsehen, daher wusste ich, dass ich jetzt eigentlich sagen müsste: Worum geht's denn? Aber ehrlich, warum sollte ich das tun? Sie trat unaufgefordert in die Wohnung, stolzierte eher, eine kleine, rundliche Frau mit ihrer Mütze unter dem Arm und dem drahtigen, messingfarbenen Haar zu einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden.
    »Debby Diaz.« Sie sprach es Dai Äss aus. Sie streckte mir eine schmale, raue Hand hin und platzierte sich auf ein blaues Sitzkissen im zotteligen Retrolook, das Anna eigentlich mehr als Gag vor einigen Wochen gekauft hatte. »Ich kenne Ihren Dad schon eine halbe Ewigkeit. Ich war noch Gerichtsdienerin, als er am Kammergericht angefangen hat. Ich erinnere mich sogar noch an Sie.«
    »An mich?«
    »Ja, ich hatte ein paarmal Dienst in seinem Gerichtssaal, wenn Sie da waren. In den Verhandlungspausen haben Sie sich oben auf seinen Platz gesetzt. Unten vom Saal aus konnte man Sie gar nicht richtig sehen, aber das hat Ihnen keiner gesagt. Junger Mann, Sie haben den Richterhammer ganz schön malträtiert. Ein Wunder, dass er das ausgehalten hat.« Die Erinnerung erheiterte sie, und ich konnte mich auf einmal tatsächlich an die Szene erinnern und an das musikalische Echo, wenn ich den Hammer auf den Eichenblock knallte. »Damals war ich jung und schlank«, sagte sie. »Wartete darauf, zur Polizei zu kommen.«
    »Das haben Sie ja offenbar geschafft.« Ich sagte das nur, weil mir nichts anderes einfiel, aber sie fasste es als Scherz auf und lächelte leicht.
    »Genau das hab ich gewollt. Oder es zumindest geglaubt.« Sie schüttelte kurz den Kopf über die Torheit der Jugend. Dann blickte sie mich mit einer verstörend übergangslosen Intensität an. »Wir sind dabei, den Tod Ihrer Mutter abzuklären.«
    »Abzuklären?«
    »Antworten auf ein paar Fragen zu bekommen. Sie wissen ja, wie das ist. Einen ganzen Monat lang passiert rein gar nichts, und dann auf einmal muss alles innerhalb einer Woche vom Tisch. Die Kollegen vor Ort haben eine ausführliche Aussage Ihres Vaters aufgenommen, aber keiner hat daran gedacht, auch mit Ihnen zu reden. Als ich Ihren Namen gehört hab, dachte ich, ich komm mal rüber und erledige das selbst.«
    Manchmal lernt man Menschen kennen und weiß, dass sie daran gewöhnt sind, nicht das zu sagen, was sie in Wirklichkeit meinen, und Detective Diaz gehörte zweifellos in diese Kategorie. Ich überlegte kurz, wie sie mich gefunden hatte, doch dann fiel mir ein, dass ich diese Nachsendeanschrift beim Gericht angegeben hatte, als ich dort aufhörte. Alles in allem war es mir lieber, am Wahltag zu Hause mit ihr zu reden, als wenn sie in der Schule aufgetaucht wäre. Es gibt immer noch jede Menge Leute im Lehrkörper, die sich an meine Zeit an der Nearing High erinnern und sich kaum vorstellen können, dass ich ein gutes Vorbild abgebe.
    »Mir ist immer noch nicht klar, was Sie mich fragen wollen«, sagte ich zu ihr, und sie machte eine Handbewegung, als wäre das alles zu vage, zu polizeitypisch, zu bürokratisch, um es zu erklären.
    »Setzen Sie sich«, sagte sie, »dann werden Sie's ja hören.« Von ihrem Platz auf dem Sitzkissen aus dirigierte sie mich in meinen eigenen vier Wänden zu einem Stuhl. Mir wurde klar, dass ich eigentlich meinen Vater anrufen sollte, oder wenigstens Anna. Aber so, wie Detective Diaz dasaß, kam mir der Gedanke ziemlich nutzlos vor. So klein sie war, sie hatte eine Härte an sich, dieses Polizistenauftreten, das

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