Der Letzte Bus Nach Woodstock
großen und kleinen Verletzungen. Von draußen rollte man einen Mann herein, der gerade einen Autounfall erlitten hatte. Das Gesicht war von wächserner Blässe, aus dem Mundwinkel rann ihm ein dünner Streifen Blut. Er schien nicht wahrzunehmen, was um ihn herum vorging. Morse stand auf. Es half nichts, er mußte jetzt von ihr Abschied nehmen. Er berührte leicht ihre Hand, und ihre Finger schlossen sich zärtlich um die seinen. Sie lächelte zu ihm hoch. Er wandte sich ab, und sie sah ihm nach, wie er, etwas humpelnd, durch die biegsamen Plastiktüren ins Freie trat.
Morse ging vom Radcliffe-Krankenhaus in Richtung Stadtmitte. Einen Moment spielte er mit dem Gedanken, es seinzulassen, doch er würde die Aufgabe früher oder später doch anpacken müssen, und nun war er schon einmal in der Gegend.
Er begann mit der rechten Seite der St. Giles Street. Beim ersten Schnellrestaurant, an dem er vorbeikam, blieb er stehen und ging hinein. Es war ein Wimpy-Grill. Der flinke, kleine Italiener, der gerade dabei war, auf der heißen Herdplatte die Beefburger zu wenden, breitete auf seine Frage bedauernd die Arme aus: »Nix sprechen Englisch, Signor«, und winkte die Kellnerin herbei. Aber die konnte Morse auch nicht helfen. Er seufzte innerlich. Es würde nicht leicht sein. Ein Stück die Straße hinunter betrat er The Bird and Baby, ließ sich ein Halbes Bitter geben und unterzog den Mann an der Zapfsäule, der, wie sich herausstellte, der Wirt war, einer eindringlichen Befragung. Ja, er stehe jeden Mittag hinter der Theke … Nein, das tue ihm leid … doch, wenn – könnte er sich bestimmt daran erinnern, aber leider … Morse bedankte sich.
Also weiter in der Cornmarket Street. Systematisch klapperte er alle in Frage kommenden Pubs, Imbißstuben und Billigrestaurants ab, wechselte vor der Ecke Cornmarket – High Street auf die andere Seite und begann dort von neuem. In einer kleinen Bäckerei mit angeschlossener Teestube – Hier wird Ihnen auf Wunsch ein Imbiß serviert –, die von dem benachbarten Riesenbau von Marks & Spencer schier erdrückt wurde, hatte er schließlich Erfolg. Die Frau, mit der er sprach, war grauhaarig und etwas rundlich. Sie hatte ein offenes Gesicht und lächelte ihn freundlich an. Sie nickte sofort mit dem Kopf und ging ihm voraus in einen Raum zu ihrer Linken, in dem sechs oder sieben runde Tische standen, jeder mit einer rot-weiß karierten Decke. Sie führte ihn an einen Tisch mit zwei Stühlen in der rechten hinteren Ecke. »Hier haben sie immer gesessen.«
Es war Viertel vor vier. Morse ließ sich auf einem der Stühle nieder. Der Fall Kaye war jetzt gelöst, aber er empfand keine Genugtuung und erst recht keine Freude. Ihm taten die Füße weh, vor allem der rechte. Er brauchte dringend etwas, das ihn aufmunterte, aber er wußte selber nicht, was das hätte sein können. Aus seiner Brieftasche nahm er Sues Bild, betrachtete ihr Gesicht und lächelte bitter. Eine gemeinsame Zukunft hatten sie nicht. Die grauhaarige Frau trat zu ihm an den Tisch.
»Darf ich Ihnen etwas bringen, Sir? Entschuldigen Sie, daß ich nicht gleich gefragt habe, aber ich dachte …«
»Ja, bitte einen Tee«, sagte Morse. Vielleicht ging es ihm danach besser.
Eine Stunde später war er wieder in seinem Büro. Auf dem Schreibtisch lag ein Zettel von Lewis. Er hoffe, es mache dem Inspector nichts aus, daß er heute einmal früher gegangen sei. Seine Frau habe sich mit Grippe ins Bett gelegt, und er wolle sich um die Kinder kümmern, damit sie ein bißchen Ruhe habe. Falls er gebraucht werde, sei er zu Hause zu erreichen. Morse knüllte das Blatt zusammen und sah, daß darunter der Brief lag, den Lewis von Jennifer Coleby zurückgebracht hatte. Er prüfte, ob der Umschlag auch tatsächlich geschlossen war, und legte ihn dann ungeöffnet in die Schublade links unten, schloß sie ab und steckte den Schlüssel ein.
Wie spät war es jetzt? Gleich fünf … Versuchen konnte er es immerhin. Er griff nach dem Telefonbuch, suchte die Nummer heraus und wählte. Er wollte schon wieder auflegen, als sich am anderen Ende jemand meldete.
»Ja. Hallo. Town and Gown. Palmer am Apparat.«
»Guten Abend, Mr. Palmer. Hier Morse.«
»Ach, Sie sind es.« Es klang nicht sehr begeistert. »Sie haben Glück, daß Sie mich noch erreicht haben. Ich war schon beim Abschließen und bin nur noch einmal zurückgekommen, weil ich dachte, es sei ein Kunde. Man weiß ja nie, es hätte vielleicht wichtig sein können.«
»Es ist
Weitere Kostenlose Bücher