Der Letzte Bus Nach Woodstock
alles nach einem Sexualmord aus, aber irgend etwas sagte mir, daß dieser Eindruck trog. Die Dinge sind nicht immer das, was sie scheinen.« Er sprach merkwürdig monoton, als stehe er unter einer Art Betäubung. »Das konnte natürlich daran liegen, daß der Mörder nach der Tat absichtlich ein falsches Bild erzeugt hatte. Aber so raffiniert gehen meiner Erfahrung nach nur die wenigsten zu Werke. Eine andere Möglichkeit war die, daß alles, was wir dort sahen, echte Spuren waren, von etwas, das sich tatsächlich zugetragen hatte, daß es aber trotzdem eine Erklärung für sie gab, die nicht dem üblichen Muster von Vergewaltigung mit anschließendem Mord entsprach. Denn irgend etwas stimmte daran nicht. Es fiel mir zum Beispiel schwer, zu glauben, daß Sylvia tatsächlich dort auf dem Hof vergewaltigt worden sein sollte. Es war zwar dunkel, aber immerhin kamen in unregelmäßigen Abständen von Zeit zu Zeit Autos oder fuhren weg. Und es übersteigt, ehrlich gesagt, meine Phantasie, mir vorzustellen, daß irgend jemand ein Delikt wie Vergewaltigung im Licht aufgeblendeter Scheinwerfer begeht.« Beim Sprechen schien etwas von der dumpfen Starre von ihm abzufallen, und als er Lewis jetzt aufforderte, seine Meinung zu sagen, hatte er schon fast wieder seinen alten lebhaften Ton. »Nun?«
»Das klingt einleuchtend, Sir.«
»Einerseits also die Anzeichen für eine Vergewaltigung mit anschließendem Mord, die bedeuteten, daß wir nach einem Sexualtäter zu suchen hatten, andererseits gewisse Unstimmigkeiten, die dagegen sprachen. Und das war ja nicht nur die Tatsache, daß der Hof um die Tatzeit alles andere als ruhig und ungestört war – Vergewaltigung löst häufig heftige Gegenwehr aus. Sylvia hätte schreien und um Hilfe rufen können, es sei denn, der Täter hätte sich erst an ihr vergangen, als sie schon tot war. Aber diese Möglichkeit möchte ich nicht so ohne weiteres in Betracht ziehen; ich bin, was solche Dinge anbelangt, doch etwas empfindlich. Ich beschloß, die Anzeichen, die auf Vergewaltigung hindeuteten, fürs erste außer acht zu lassen und statt dessen von der Hypothese auszugehen, daß die Ermordete vor ihrem Tod Verkehr gehabt hatte, und zwar freiwillig. Nach allem, was wir wissen, war sie nicht gerade prüde. Daß sie unter ihrer dünnen weißen Bluse keinen BH trug, als wir sie fanden, gab mir zu denken. Am nächsten Tag in ihrem Zimmer stellte ich fest, daß sie überhaupt keinen weißen BH besaß, sondern nur einen schwarzen. Wohl, weil schwarz unter jungen Mädchen als besonders verrucht gilt. Da man annehmen darf, daß jemand, der so auf sein Äußeres bedacht war wie Sylvia Kaye, niemals die Todsünde begehen würde, unter einer weißen Bluse einen schwarzen BH anzuziehen, ließ das meiner Meinung nach nur den einen Rückschluß zu, daß sie offenbar häufiger ohne herumlief, und das war bei ihr sicher keine Demonstration weiblicher Unabhängigkeit, sondern wohl eher eine recht deutliche sexuelle Provokation.«
»Einen Schlüpfer hatte sie auch nicht an, Sir«, bemerkte Lewis.
»Doch, doch. Der gerichtsmedizinische Befund erwähnt den Einschnitt, den der Gummizug auf ihrer Haut hinterlassen hat. Ich bin ziemlich sicher, daß ihn ihr jemand, als sie schon tot war, ausgezogen und mitgenommen hat. Inzwischen ist er wahrscheinlich längst in irgendeinen Ofen gewandert oder wurde weggeworfen.« Er machte eine ungeduldige Handbewegung. »Aber das führt uns jetzt nur vom Thema ab. Zurück zu meiner Hypothese. Aus ihr ergab sich nämlich eine bestimmte Konsequenz. Vergewaltigung und Mord – da hängt das eine mit dem anderen zusammen, da wäre für beides mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein und dieselbe Person in Frage gekommen. Nahm ich aber an, daß sie freiwillig Verkehr gehabt hatte, dann sah das anders aus. Ihr Partner beim Beischlaf und die Person, die sie umgebracht hat, mußten nicht miteinander identisch sein. Im Laufe der Ermittlungen erfuhren wir, daß der Mann, mit dem sie geschlafen hatte, Bernard Crowther war. Er und seine Frau hatten sich mit den Jahren auseinandergelebt, und er nahm es mit der ehelichen Treue nicht mehr so genau. Nun wußten wir von Mrs. Crowther, daß sie Sylvia Kaye und ihren Mann beobachtet hatte, wie sie sich – in wohl eindeutiger Absicht – nach hinten auf die Rückbank begaben. Es war denkbar, daß die beiden, nachdem sie sich miteinander vergnügt hatten, in Streit gerieten. Bei Sylvia zu Hause hatte ich gesehen, daß sie recht
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