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Der letzte Elf

Titel: Der letzte Elf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvana DeMari Silvana De Mari
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verstummte Tracarna. Robis Blick ruhte auf ihren violetten Samtstrümpfen mit goldenen Steppnähten und einer winzigen Perle in den Schnittpunkten der Nähte. Ehrlich gesagt war es schwierig, nach unten zu schauen und die Strümpfe nicht zu sehen, und das einzige Mal, als sie mit Tracarna hatte sprechen wollen, ohne die Augen niederzuschlagen, war ihr noch lebhaft in Erinnerung.
    »Die goldenen Strümpfe trage ich nicht für mich«, zischte Tracarna eisig, »sondern für den Machthaber von Daligar, den ich repräsentiere. Nur ihm zu Ehren trage ich sie an meiner bescheidenen Person«, erklärte sie, jede Silbe einzeln so betonend, als ob sie mit Idioten spräche.
    Tracarna seufzte und betrachtete die Kinder. Auch Robi warf einen Blick ringsum und das war kein erhebender Anblick. Alle waren barfuß, in schlammfarbene Jute gekleidet, dreckige, ungekämmte Haare fielen in magere und schmutzige Gesichter. Einmal hatte Robi Iomir Zöpfe geflochten, aber das war als »verrücktes und leichtsinniges Benehmen« eingestuft worden: eine Stunde länger Arbeit und für beide kein Abendessen.
    Iomir fing wieder an zu husten und Tracarna sah sie traurig an, wie betrübt über diese Form verantwortungsloser Undankbarkeit.
    »Heute hast du sehr oft gestört, Iomir«, sagte sie sanft und ging auf das Mädchen zu.
    Iomir versuchte, den Husten zu unterdrücken, und wäre fast erstickt. »Kein Frühstück«, ergänzte Tracarna mit einem Seufzer trauriger Enttäuschung.
    Dann drehte sie sich um und gab den größeren Jungen, Creschio und Moron, Anweisung, pro Kopf einen Apfel und etwas Maisbrei auszugeben. Iomirs Ration konnten sie unter sich aufteilen. Creschio und Moron wechselten einen triumphierenden Blick. Dann, fuhr Tracarna fort, sollten sie die Kinder auf die Felder bringen, um dort das letzte Gras zu mähen und etwas Holz zu sammeln. Iomir gelang es, sich das Weinen zu verkneifen, bis die Hyänen draußen waren. Die Kinder liefen ins Freie hinaus und stellten sich in einer Reihe auf, alle außer Robi, die sich nicht vom Fleck gerührt, und Iomir, die sich schluchzend in einen Winkel des Schlafsaals gehockt hatte.
    Robi dachte an das Ei, das sie im Magen hatte. Für diesen Tag war der Hunger besiegt.
    Sie sah Iomir an, die klein und verzweifelt dahockte, die Händchen vors Gesicht geschlagen.
    Während die anderen ins Freie drängten, blieb sie im Schatten, zog aus der verborgenen Jackentasche das Rebhuhnei hervor und säuberte es, dann ging sie zu Iomir und ließ das Ei in ihre Hände gleiten. »Hör nicht gleich auf zu weinen!«, empfahl sie flüsternd. »Und iss auch die Schale auf, damit nichts herumliegen bleibt.«
    Dann stellte sie sich um ihren Apfel an. Sie bekam einen verschrumpelten und angeschlagenen Apfel und der Maisbrei war weniger als sonst, aber während sie aß, hörte sie, wie Iomirs Weinen immer fröhlicher geheuchelt klang. Es würde ein guter Tag werden.

KAPITEL 4
    Z um hundertsten Mal wollte der Drache die Geschichte von der Bohnenprinzessin vorgelesen bekommen. Er musste sie mittlerweile auswendig kennen. Die Prinzessin war gleich nach ihrer Geburt während der Überschwemmungen auf einem Bohnenfeld verloren gegangen, wo die böse Bäuerin sie fand und großzog, weshalb die Königin, als sie ihr begegnete, nicht wusste, dass sie ihre Mutter war und sie nicht erkannte. An dieser Stelle musste eine Pause gemacht werden, um dem Drachen Gelegenheit zu geben, all seine Tränen zu vergießen, dann ging es weiter. An der Stelle, wo die Prinzessin, die glaubte, arm zu sein, dem bösen Prinzen sagte, er solle seine Schätze für sich behalten, folgte noch eine Pause, um den Teppich aus rosa Blütenblättern, der überall am Boden ausgebreitet war, mit Tränen zu benetzen. Der Jubel war groß im Augenblick des Wiedererkennens, die Bohnenprinzessin und ihre Mutter, die Königin, fielen einander in die Arme. So reichlich flossen da die Tränen, dass nicht nur die rosa Blütenblätter, sondern auch die Schmetterlinge triefnass davon wurden. Ende. Schweigen.
    Erschöpft vom vielen Weinen und vom übergroßen Jubel, war der Drache eingeschlafen. Sein ruhiges Schnarchen versetzte Blütenblätter und Schmetterlinge in eine regelmäßige Schwingung, ähnlich der Meeresbrandung.
     
     
    Drachen haben einhundertsechsundfünfzig Wirbel, vierundzwanzig Rippenpaare, vier Lungen und zwei Herzen. Zwischen Gaumenzäpfchen und Schilddrüse befinden sich die Feuerdrüsen, die Glukose-Alkohol-Konvertase enthalten, eine Substanz, die

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