Der letzte Elf
Nachdem er den Klumpen Schimmel in Mandelöl getaucht hatte, legte er ihn auf einen Stock und schob diesen über den Krater. Er band das Pergament nicht am Stock fest. Er war nicht imstande, einen Gegenstand vollkommen frei schweben zu lassen, aber er konnte ihn durch Gedankenkraft im Gleichgewicht halten. Dampfschwaden hüllten ihn ein. Jetzt brauchte er nur noch zu warten.
Er setzte sich bequem im Blütenregen nieder und hielt den Stock mit beiden Händen fest. Der war rau, ohne Rinde und voller Knoten. Er hatte dem Jäger gehört. Yorsch schloss die Augen, die Erinnerungen überfluteten ihn. Und mit den Erinnerungen kam die Wehmut. Er hatte nur eine ganz blasse Erinnerung an seine Mutter, ein Augenblick des Lächelns, der Klang einer Stimme. Die Großmutter dagegen war fest in seinem Gedächtnis verankert, mit all ihrer Traurigkeit und all dem, was sie ihn gelehrt hatte. Und dann waren da sie, Sajra und Monser, ihre Fröhlichkeit, ihr Mut...
Yorsch lächelte bei diesen Erinnerungen, doch dann übermannte ihn die Wehmut und das Lächeln verschwand wie die letzten grünen Grashalme beim hereinbrechenden Frost. Sehnsucht nach Freundschaft erfüllte ihn, nach Zärtlichkeit, dazu ein leises, undefinierbares Gefühl, das er nur schwer hätte benennen können. Es war, wie soll man sagen, die Unbestimmtheit der Dinge, ihre Unvorhersehbarkeit. Er fing am Morgen irgendwo an und wusste nicht, wie sich alles weiterentwickeln würde. Alles könnte geschehen, und auch das Gegenteil von allem.
Angst, Hoffnung, Verzweiflung, Hunger, Glück und Freude - all das hatte Platz in den Tagen.
Während es jetzt von morgens bis abends, Jahr für Jahr, Jahreszeit für Jahreszeit, eine endlose Folge von immer gleichen Jahreszeiten hindurch immer nur Blütenblätter und rosa Vollkommenheit gab.
Die Hoffnung auf etwas Unvollkommenes wurde mit jedem Tag mehr zur Illusion. Sogar nach Schlamm, Regen und Hunger sehnte er sich. In Wirklichkeit sehnte er sich nach ihnen: nach Sajra und Monser, nach der Frau und dem Mann, die ihn aufgelesen und gerettet hatten, die ihre Schritte den seinen angepasst, ihn lieb gehabt hatten. Und tatsächlich, wenn er es genau bedachte, war es nicht das Unvollkommene, was ihm fehlte.
Monser und Sajra fehlten ihm.
Frei zu sein, fehlte ihm.
»Was machen du gerade?«, erkundigte sich der Drache.
»Nichts Besonderes«, antwortete der Elf.
»Also kann du kommen und hier machen? So ich muss nicht verweilen in Einsamkeit, und wir lesen schönes Buch, auch wenn wir schon gelest haben Buch von schöne Prinzessin, die heiratet wunderbare Prinz, der als Kind verloren, und alle glauben, dass er ein anderer war...«
Offenbar weist das Gehirn von Drachen nach dem zweitausendsten Lebensjahr erschreckende Lücken auf. Der Drache erinnerte sich nicht an seinen Namen. Von allen möglichen Defekten war das dem Elfenjungen als Anzeichen des heillosesten Schwachsinns erschienen. Das war am Anfang gewesen, damals kannte er freilich seine Leidenschaft für Liebesromane noch nicht. Nicht alle Liebesromane. Nur die absolut schwachsinnigsten.
»Ich mache hier fertig und komme«, versprach der Elfenjunge.
Inzwischen hatte der Dampf den Schimmel aufgeweicht. Ganz langsam begann Yorsch das Pergament auseinanderzurollen. Er ging behutsam vor, um nichts einzureißen, und fettete alles mit Mandelöl ein, bevor er die Pergamentblätter eines vom anderen löste.
Bald würde er den Titel entziffern können.
Ungeduldig geworden fragte der Drache noch einmal, was er mache, und während er ihm antwortete, entzifferte Yorsch den Titel: Dracones , die Sprache der Dritten Runendynastie, das heißt, Die Drachen . Ein Buch über Drachen! Es war das erste Mal, dass er ein solches zu Gesicht bekam. In der ganzen Bibliothek mit insgesamt fünfhundertdreiundzwanzigtausendachthundertsechsundzwanzig Bänden handelte kein einziges Buch von Drachen. Fünfhundertdreiundzwanzigtausendachthundertsechsundzwanzig Bücher, von der Astronomie zur Alchimie, über Meteorologie, Geografie, Anleitungen für den Fischfang und die Konservierung von Preiselbeeren unter Spiritus, nebst tausendeinhundertfünf Pilzkochbüchern und achtzehntausendvierhundertsechsunddreißig Liebesromanen, allesamt im Wettstreit um die Auszeichnung »Schwachsinnigstes Buch des Jahrtausends«, und kein einziges Traktat über Drachen?
Dann hatte er begriffen. Die Bibliothek musste dutzendweise Bücher über Drachen enthalten haben, wenn nicht gar Hunderte, aber aus irgendeinem
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