Der letzte Elf
Großmut, Großzügigkeit und Sanftmut Eures Wohltäters erfahren könnt. Unseres Wohltäters. Unser aller Wohltäter. Unseres Führers. Der uns verteidigt. Wir lieben...«
»Den Verwaltungsrichter für Daligar und die angrenzenden Grafschaften«, antworteten die Kinder im Chor. Die Kleine konnte wieder nicht zu Ende sprechen, weil der Husten sie unterbrach. Sie stand hinter Robi. Die wagte nicht, sich umzudrehen. In der umfangreichen und ausgeklügelten Liste von Verfehlungen der Madame Tracarna galt das Umdrehen während des »Dialogs« als »Ungezogenheit« und wurde mit Ohrfeigen bestraft, deren Anzahl zwischen eins und sechs variierte. Robi hatte den Eindruck, es wäre Iomir, die da hustete, aber sie war sich nicht sicher.
»Wir sind alle...«, begann Tracarna wieder.
»Dankbar«, ergänzten die Kinder.
»Unserem geliebten...«
»Verwaltungsrichter für Daligar, unserer geliebten Grafschaft, dem einzigen Gut auf dieser Welt, für das es sich lohnt, zu leben und zu sterben...«
Vor allem zu sterben, das war leichter und wahrscheinlicher. In dieser Grafschaft zu leben, war eine echte Herausforderung geworden, und von Tag zu Tag wuchs das Ausmaß an Glück und Geschicklichkeit, die man für das bloße Überleben brauchte.
Das Husten erklang noch einmal. Jetzt war Robi sicher: Es war Iomir.
»Ohne ihn wärt ihr...«, fuhr Tracarna ärgerlich fort.
Mama und Papa kamen Robi in den Sinn. Ohne den Verwaltungsrichter für Daligar und die angrenzenden Grafschaften wären sie heute noch am Leben, und sie selbst würde zu Hause unter warmen Wolldecken schlafen, dann würde sie aufwachen und zum Frühstück Milch, Brot, Äpfel und etwas Honig essen, manchmal auch ein bisschen Käse.
»Verloren und verzweifelt«, antwortete der Chor, »Kinder unseliger Eltern.«
Glücklich und mit vollem Bauch, dachte Robi; sie und Iomir ganz sicher, aber auch all die anderen, deren Eltern an Armut und Auszehrung gestorben waren. Bevor der Verwaltungsrichter für Daligar und die angrenzenden Grafschaften gekommen war und das Leben nach seinen merkwürdigen Prinzipien von Gerechtigkeit und Liebe völlig neu geregelt hatte, war es schwer gewesen, wirklich Hunger zu leiden, in einem Land, das reich an Obstgärten war, wo Nutzgärten und Weinberge einander abwechselten und auf den Wiesen ebenso viele Kühe standen wie Blumen. Nicht einmal während des Großen Regens, in den dunklen Jahren der Finsternis, hatte der Hunger die Grafschaft gestreift. Jetzt war er die Regel, alltäglich, die Normalität. Karren um Karren voller Früchte und Getreide fuhren jeden Sommer vom Land nach Daligar, wo man damit vielleicht die Straßen pflasterte. Denn es war menschenunmöglich, dass die dort dieses viele Zeug essen sollten.
Ohne den Richter wären sie auch keine Waisen gewesen. Ohne den Richter würden sie in einer Welt leben, wo die Menschen es richtig fanden, für ihre Kinder zu leben und zu sterben.
»Oder schlimmer«, fing Tracarna wieder an.
Hier schwieg der Chor.
»Kinder egoistischer Eltern«, fuhr Iomirs Stimme alleine fort, aber wieder erstickte Husten die letzten Silben.
Robi holte Luft, nun war sie als Solistin an der Reihe: »Oder von Egoisten und Beschützern von Elfen«, fügte sie rasch hinzu, in der Hoffnung, dass dies ein Morgen wäre, an dem alles schnell und glatt vorüberginge. Ihre Hoffnung wurde enttäuscht. Es war ein Morgen, an dem sich alles in die Länge zog und man in die Einzelheiten ging. Tracarna kam näher und ihr Lächeln wurde noch zärtlicher.
»Genau so«, begann sie zu erklären, »deine Eltern waren...«
»Egoisten«, murmelte Robi. Sie zog es vor, sich bei der weniger schwerwiegenden Sache aufzuhalten, denn dass ihre Eltern einen Elfen beschützt haben sollten, war dermaßen abstoßend, dass ihr allein schon vor dem Gedanken graute.
»Lauter, meine Liebe, lauter!«
»E-go-is-ten«, sagte Robi laut.
»Und was heißt das?”
»Dass sie an ihrem Reichtum hingen.« Robi dachte an diesen Reichtum: Mamas getrocknete Äpfel, Papas Enten, die Obstbäume hinter dem Haus. Papa und Mama fingen vor Morgengrauen mit der Arbeit an und hörten spät in der Nacht damit auf. Das Ergebnis war eine gefüllte Vorratskammer und schöne Reihen Kohl im Garten. Dann waren die Soldaten gekommen.
»Das stimmt, meine lieben Kinder«, erklärte Tracarna, während Stramazzo gelangweilt nickte, »das ist eine grauenhafte Sache, ganz grau-en-haft, die eigenen Güter nicht zu teilen, am eigenen Reichtum zu hängen.«
Ärgerlich
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