Der letzte Engel (German Edition)
in dem ihr Anführer den ersten Pfeil abschoss. Auch wenn es Waldemar nie zugegeben hätte, war der Mord an dem italienischen Wissenschaftler eine Genugtuung für ihn. Er war hier für die Bruderschaft, er war aber auch hier, um Max und Georg zu rächen, obwohl er das gegenüber den Brüdern Grimm nie zugegeben hätte. Waldemar änderte mit dem ersten Pfeil den gesamten Plan. Die Bruderschaft geriet in einen Blutrausch und begann jeden zu töten, der sich ihnen in den Weg stellte.
Während die restlichen Wissenschaftler mit erhobenen Armen die Treppe hinunterliefen und durchlöchert wurden, während der Zar einen Angreifer mit dem Degen durchstach und die anderen auf Abstand hielt, zogen sich van Leeuwenhoek und Romain in das Zimmer zurück, in dem der Fund lag. Der Zar folgte ihnen Minuten später und zusammen verbarrikadierten sie sich. Erst als die Bruderschaft gegen die Tür anstürmte, wurde den drei Männern bewusst, wer fehlte. Sie hatten die Baronin vergessen. Sie lag zwei Zimmer entfernt mit Ohrstöpseln im Bett und befand sich wahrscheinlich noch immer im Tiefschlaf.
»Was soll’s«, sagte der Zar. »Vielleicht wacht sie auf und alles ist vorbei.«
Sie rissen die Samtvorhänge von den Fenstern und wickelten die Flügel und die Skelette darin ein, als auch schon der erste Brandgeruch durch die Türritze wehte.
Die Bruderschaft hatte an alles gedacht, sie hatten petroleumgefüllte Schläuche und Zündhölzer dabei, sie wussten auch, in welchem Zimmer die Flügel und die Skelette zu finden waren. Aber sie hatten keinen Moment daran gedacht, um die Villa herum Wachen aufzustellen.
Der Zar stieg als Erster über den Balkon und kletterte am Rankenspalier hinunter. Er ließ sich die Samtvorhänge zuwerfen, dann folgten Romain und van Leeuwenhoek. Es dauerte keine zwei Minuten und das Zimmer über ihnen geriet in Brand. Van Leeuwenhoek und Romain schleppten den Fund zu einer der Kutschen, während der Zar die Gäule holte. Lange bevor die Angreifer vor die Villa traten, waren die drei Herren vom Grundstück verschwunden.
Außer der Köchin, die sich auf der Toilette eingeschlossen hatte, überlebte niemand den ersten Angriff der Bruderschaft. Neunzehn Menschen starben in den Flammen und eine davon war die Baronin von Krüdener. Sie bekam nie mit, was ihrer Familie wiederfahren war. Sie war im Schlaf erstickt und mit ihr verwandelten sich alle Protokolle und Untersuchungsergebnisse in Asche. Unter ihnen auch Die Chronik der Engel .
Auch das Laboratorium wurde vollständig vernichtet.
Nichts blieb übrig.
Und das war der erste Angriff der Bruderschaft.
»Du kannst dir vorstellen, was für Gesichter wir gemacht haben, als wir am selben Nachmittag von unserem Ausflug zurückkamen«, sagt Natascha. »Die Villa war eine qualmende Ruine, und wir dachten natürlich, alles, aber wirklich alles wäre in Flammen aufgegangen. Du meine Güte, haben wir geheult.«
»Ich konnte gar nicht aufhören«, sagt Pia und bekommt in Erinnerung an den Tag gleich mal feuchte Augen. »Ich habe mich wie jetzt gefühlt – die Flügel sind nicht mehr und alles ist vorbei.«
»Wir werden die Flügel schon finden«, verspricht ihr Natascha und tätschelt ihren Arm, aber Pia lässt sich nicht beruhigen. Sie schiebt die Sonnenbrille von ihrer Stirn herunter und versteckt ihre Augen hinter den dunklen Gläsern.
»Jetzt aber Schluss mit dieser grausamen Geschichte«, sagt Natascha plötzlich fröhlich. »Pia, geh dein Gesicht waschen, du siehst aus wie eine Nachteule. Ich mache uns in der Zwischenzeit ein Frühstück.«
Sie streicht über Monas Wange.
»Du musst ja vollkommen ausgehungert sein.«
»Sie hat sechs Brote gegessen«, meldet sich Kolja aus dem Hintergrund.
»Sechs Brote?!«, wiederholt Pia entrüstet. »Mona ist im Wachstum, sie muss alle zehn Minuten sechs Brote essen!«
»Ich bin mehr müde als ausgehungert«, sagt Mona.
»Armes Mädchen«, sagt Natascha darauf. »Aber auch das ist bald vorbei.«
Sie will gerade aufstehen, da fragt Mona:
»Warum jagt euch die Bruderschaft eigentlich?«
Natascha lächelt, als hätte Mona eine kindische Frage gestellt.
»Was glaubst du, Kleines? Immer da, wo es Gutes gibt, gibt es auch Böses. Die Bruderschaft will nicht, dass die Engel zurückkehren. Wahrscheinlich gehören sie irgendeinem religiösen Kult an, der den Teufel anbetet. Wir wissen es nicht.«
Mit diesen Worten wendet sich Natascha ab. Mona spürt, dass Pia sie hinter den dunklen Gläsern der Sonnenbrille
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