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Der letzte Engel (German Edition)

Der letzte Engel (German Edition)

Titel: Der letzte Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoran Drvenkar
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aussahen. Sie hielten Armbrüste in den Händen, die sie auf die Wissenschaftler richteten. Nichts weiter geschah. Die Männer sprachen nicht, denn die Bruderschaft hatte es sich zur Regel gemacht, keine Erklärungen abzugeben. Die Wissenschaftler saßen da und zitterten, die Männer standen da und warteten. Sie hatten die Anweisung, die Forscher im Erdgeschoss in Schach zu halten. Sie dachten nicht daran, die Armbrüste einzusetzen.
    Erst als sich rechts von ihnen die Verbindungstür öffnete und ein vierter Wissenschaftler aus der Küche hereinkam, änderte sich die Situation. Der Wissenschaftler hatte Gebäck und eine zweite Kanne Kaffee geholt und betrat die Bibliothek mit einem Tablett in den Händen, das er erschrocken fallen ließ, als er die bewaffneten Männer sah. Und dann schrie er. Nicht um Hilfe, nicht um Gnade. Er schrie einfach, wie jemand schreit, der sich erschreckt hat. Der Bolzen traf ihn in die Brust, der Schrei wurde zu einem Röcheln, der Wissenschaftler fiel zu Boden und lag still.
    Keiner von den zwei Männern hatte geschossen.
    Waldemar Thorwald stand im Türrahmen und lud seine Armbrust nach.
    Von dem Moment an brach das Chaos aus.
    An diesem Morgen befanden sich insgesamt vierzehn Wissenschaftler, drei Bedienstete, die Köchin und zwei Ärzte in der Villa. Dazu kam der harte Kern der Familie, der im ersten Stockwerk seine Zimmer hatte. Nur die Gräfinnen waren abwesend. Sie hatten mit Kolja an ihrer Seite eines der Strandhäuser der Familie besucht und die Nacht dort verbracht. Sie hörten nie den Schrei des Wissenschaftlers, der den Zaren aus seinem Schlaf riss. Wer weiß, was gewesen wäre, wenn der Mann nicht geschrien hätte.
    Der Zar glaubt, dass ihm der Schrei das Leben gerettet hat. Er schwang die Beine aus dem Bett und stellte die Situation nicht infrage. Er rannte nicht nach unten und beschwerte sich, was der Lärm zu bedeuten hätte, wie es zwei andere Forscher getan hatten, die dann auch an Ort und Stelle starben. Nein, der Zar kleidete sich an und nahm das Gewehr aus seinem Schrank. Er lud es und machte sich bereit. Er war sechzig Jahre alt, und niemand rechnete mit ihm, was ein wenig auch daran lag, dass der Zar seit über zehn Jahren als tot galt.
    Es war überraschend leicht gewesen, den eigenen Tod vorzutäuschen. Der Zar war im Winter 1825 zur kleinen Hafenstadt Taganrog gereist, die im Süden Russlands lag und so entfernt war, dass bis dahin niemand in Sankt Petersburg von ihrer Existenz gehört hatte. Die Abgelegenheit kam dem Zaren genau recht. Sein Berater hatte alles vorbereitet. Eine Leiche, die große Ähnlichkeit mit dem Zaren hatte, lag bereit. Es gab einen Totenschein, der als Todesursache ein mysteriöses Fieber angab.
    Das russische Volk und die Welt erfuhren in den darauffolgenden Tagen vom tragischen Dahinscheiden des Zaren, während der Zar sich zur gleichen Zeit gut getarnt auf den Heimweg nach Sankt Petersburg machte, um sein neues Leben an der Seite der Flügel zu beginnen. Es war sein Weg raus aus der Politik, es war sein Weg hinein in die Sicherheit der Familie. Der Zar war schon seit einer Weile müde vom Weltgeschehen, und da es nicht infrage kam, dass er sein Amt niederlegte, hatte er seinen Tod inszeniert.
    Der Zar verließ sein Zimmer mit dem Gewehr im Anschlag. Ein Mann stand im Flur und drehte sich erschrocken um, als er Schritte hinter sich hörte. Der Mann hieß Hans Elmers, er hatte das erste Stockwerk zu bewachen und war sehr nervös. Hans war stolz, ein Mitglied der Bruderschaft zu sein, er hatte aber keine Idee, ob er es nach diesem Tag noch so großartig finden würde. Seine Nerven waren nicht die besten, es geschah ihm viel zu viel gleichzeitig. Und wie er sich mit der Armbrust im Anschlag umdrehte, zögerte er einen Moment zu lang – der Mann kam ihm bekannt vor, aber Hans konnte nicht sagen, wo er ihn schon mal gesehen hatte.
    Der Zar stellte sich nicht vor. Er jagte Hans einen Pfeil durchs Herz und nahm dem armen Mann damit alle Sorgen um die Zukunft.
    » ALLE RAUS, WIR WERDEN ANGEGRIFFEN !«, brüllte der Zar den Flur hinunter.
    Dann packte er sich den Degen und die Armbrust von Hans und zog in den Kampf.
    Die Bruderschaft hatte einen Plan. Der Plan war, die Wissenschaftler in Schach zu halten, die Flügel und Skelette zu finden, sie mit Petroleum zu übergießen und anzuzünden, dann die Wissenschaftler aus der Villa in die Sicherheit zu führen und zu warten, bis das Gebäude niedergebrannt war. Der Plan änderte sich in dem Moment,

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