Der letzte Engel (German Edition)
übrig bleiben, denn nur so konnte die Prophezeiung aufgehalten werden. So glaubten die Brüder zumindest.
»Und denkt daran«, ermahnte Robert die Studenten, »sie sind zwar nur Wissenschaftler, aber sie haben einen Glauben, und der macht sie gefährlich. Wir haben das mehr als einmal an der Front erlebt. Die schlimmsten Feinde sind die, die sich nicht um ihr eigenes Seelenheil sorgen und alles für ihren Glauben tun.«
Die Studenten hörten in der Minute auf, Studenten zu sein, in der sie das Schiff bestiegen. Es mangelte ihnen an nichts. Sie waren ausgerüstet und finanziell abgesichert. Und sie hatten den größten Antrieb in ihrem Herzen: Sie waren auf dem Weg, die Menschheit zu retten.
Nach ihrer Ankunft in Sankt Petersburg nahm sich die Bruderschaft zehn Tage lang Zeit. Unter der Leitung von Robert prägten sie sich den Lageplan der Villa und des Grundstücks ein. Sie notierten, wann die Villa gut besucht war, wann Ruhe einkehrte und die Köche und Bediensteten wechselten, selbst die Spaziergänge eines jeden einzelnen Wissenschaftlers wurden festgehalten. Jedes Detail zählte. Waldemar hatte nicht vor, ein zweites Mal zu versagen. Das Beunruhigende an ihm war, dass er aufgehört hatte, sich Gedanken um das Wohlergehen der Wissenschaftler zu machen. Als die Diskussion aufkam, ob man Gefangene nehmen sollte, schüttelte Waldemar den Kopf und sagte, wenn es nach ihm ginge, würde jeder den Tod verdienen, der sich ihnen in den Weg stellte. Nach diesen Worten bekamen einige Mitglieder der Bruderschaft leichte Zweifel, ob sie die Situation nicht falsch eingeschätzt hatten. Sie dachten, sie würden in die Villa reinspazieren, hier und da einem Forscher eins auf die Nase geben, die Flügel und das Skelett vernichten und als Helden wieder aus der Villa rausmarschieren. Sie erwarteten nicht wirklich Widerstand.
Am elften Tag setzte sich die Bruderschaft in Bewegung.
DIE FAMILIE
D ie Bruderschaft kam im Morgengrauen«, sagt Gräfin Natascha und nippt an ihrem Tee, den sie mit einem Schuss Wodka verfeinert hat.
Die Familie sitzt auf der Terrasse, die Sonne ist eben durch die Wolkenfront gebrochen und ihr Licht ergießt sich wie flüssiges Gold über den Tegler See. Es ist unpassend, und die Familie sieht in dem Licht noch schlechter aus, als sie sich fühlt. Es war eine schlimme Nacht für alle. Das Fehlen der Flügel lässt sie das Alter zehnfach spüren, nicht nur schmerzen die Gelenke, langsam fangen sie auch an, die Kontrolle über ihre Körperfunktionen zu verlieren. Als der Zar heute Morgen erwachte, war das Bettlaken nass. Es war der beschämendste Moment in seinem ganzen Leben.
Mona hat dunkle Ringe unter den Augen und so viel Cola im Bauch, dass sie jede halbe Stunde aufs Klo muss. Ihre Stimmung schwankt von Euphorie zu vollkommener Erschöpfung, die selbst das Reden zu einer Anstrengung macht. Natascha und Pia sitzen rechts und links von ihr. Sie sind froh, dass der Zar gestern Nacht nicht losgestürmt ist, um nach Erik zu suchen. Für eine Weile war er unten am Ufer gewesen, und als er wieder in die Villa zurückkehrte, war er so müde, dass er sich erst mal hinlegen musste. Die Gräfinnen bekamen nicht mit, dass Kolja kurz darauf neben der Voliere ein Grab für einen Mann in Unterhosen aushob. Die Vögel gaben die ganze Zeit über keinen Laut von sich, was sehr untypisch für sie war. Kolja fand, das war zumindest etwas. Er hatte dem Zaren versprochen, kein Wort zu den Gräfinnen zu sagen.
»Die Damen müssen sich nicht unnötig aufregen«, hatte der Zar ihn wissen lassen.
Die Hälfte der Nacht haben die Gräfinnen mit Mona Karten gespielt. Irgendwann übermannte sie die Erschöpfung und von da an kümmerte sich Kolja um das Mädchen. Er machte ihr Eierkuchen, er hielt sie mit Cola wach und erzählte ihr bis zum Morgengrauen Geschichten von der Familie, die nicht in der Historie festgehalten worden waren.
Um acht Uhr kam der Zar von oben herunter und setzte eine Ladung Wäsche auf, die Gräfinnen folgten eine Stunde später. Jetzt sitzt der Zar alleine am Gartentisch und betrachtet den Monitor seines Notebooks. Er ist aschfahl im Gesicht, nippt an seinem Kaffee und schaut immer wieder auf den Becher in seinen Händen, als könnte der Kaffee sich in Nichts auflösen. Seine Handknöchel sind angeschwollen, der Becher zwischen seinen Fingern zittert. Den Gräfinnen geht es nicht besser, nur Kolja steht wie ein Fels in der Brandung auf der Terrasse, raucht eine Zigarette und starrt in den neuen Tag,
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