Der letzte Kuss
so Leid und Trauer erspart geblieben wären. Wenn man niemals Schmerz gefühlt hat, dann hat man nicht wirklich gelebt«, sagte sie sanft.
Ihm war bereits an diesem Wochenende bewusst geworden, dass er bisher nicht gelebt hatte. Seitdem er sich so innig mit Charlotte verbunden gefühlt hatte. Während seine Mutter sprach, wurde ihm auch der Grund dafür klar. In dem Bestreben, diesen schmerzhaften Trauerprozess, den seine Mutter durchgemacht hatte, niemals zu wiederholen, war sein Entschluss gereift, wegzulaufen, zu reisen, Abstand zu halten – von seiner Stadt, seiner Familie, von Charlotte. Charlotte, die, wie er immer gewusst oder wenigstens geahnt hatte, die Frau war, die ihn an Yorkshire Falls binden und dort festhalten konnte.
Sie war die Frau, die die Macht hatte, ihn zu verletzen, ihm genau den Schmerz zuzufügen, den er fürchtete, wenn sie starb oder ihn auf irgendeine andere Weise verließ. Aber diese eine Nacht mit ihr hatte bewiesen, dass er ohne sie überhaupt nicht existieren konnte.
Sie war jedes Risiko wert.
»Ich habe gelebt, und ich habe geliebt. Das kann nicht jeder von sich behaupten. Ich hatte Glück«, fasste sein Mutter zusammen.
Ein bitteres Lächeln spielte um Romans Mund. »Du hättest mehr Glück haben können.«
Eine Kombination aus Traurigkeit, aus Glück und Erinnerungen war in ihren Augen zu lesen. »Ich will nicht lügen. Natürlich wäre es mir lieber gewesen, wir hätten euch Jungens zusammen großgezogen und wären gemeinsam alt geworden. Immerhin habe ich jetzt aber noch diese Chance mit Eric bekommen.« Ihr betroffener Blick suchte seinen. »Und du bist sicher, dass dich das nicht aufregt?«
»Ich finde, er tut dir gut. Nichts regt mich daran auf.«
Sie lächelte. »Dir ist wohl klar geworden, dass du nicht ewig vor dem Leben davonlaufen kannst.«
Es überraschte ihn nicht, dass sie seine Gedanken lesen konnte. Seine Mutter war schon immer sehr einfühlsam gewesen. Diese Eigenschaft hatte er geerbt, und sie hatte seine Karriere mitgeprägt, aber sie ging ihm auf den Geist, wenn sie gegen ihn verwandt wurde. Abgesehen davon war es diese Einfühlsamkeit, die ihn immer offen gemacht hatte für den Kummer seiner Mutter.
»Na ja, ich nehme an, du kannst schon so weitermachen wie bisher, aber bedenke, was du dabei alles verpasst.« Sie tätschelte sein Hand in der mütterlichen Geste, die ihm so vertraut war. »Und du bist zu klug, um mit etwas weiterzumachen, das eine Flucht und keine Lösung ist. So, nachdem ich dir das alles gepredigt habe – wie passt Charlotte jetzt in dein Leben? Und sag mir keinesfalls, überhaupt nicht.«
Sie war zu ihrer Mission zurückgekehrt. »Du kennst mich
doch gut genug, um zu wissen, dass ich dir so etwas nicht sagen würde«, antwortete Roman.
Sie warf einen Blick Richtung Himmel. »Mädchen! Warum konnte der liebe Gott mir zu meinen Jungs nicht ein Mädchen geben? Dann hätte ich wenigstens verstanden, was eins meiner Kinder denkt.«
»Nun lass mal gut sein, Mutter. Du weißt, dass du gern im Unklaren gelassen wirst. Das hält dich jung.«
»Ich würde lieber aus dem Jungbrunnen trinken«, murmelte sie. »Wo wir gerade von Mädchen sprechen – du hast mir erzählt, du wolltest gestern Abend einen alten Freund besuchen, der nach Albany gezogen ist, Samson aber sagte mir, er habe Charlotte in deinem Auto wegfahren sehen.«
»Für einen Mann, der als Einsiedler der Stadt gilt, ist er mir zu mitteilungsbedürftig.« Roman fragte sich, wer sie wohl sonst noch hatte wegfahren sehen. Nicht, dass es von Bedeutung gewesen wäre. Er hatte vor, sie zu einer ehrbaren Frau zu machen mit tadellosem Ruf. Es sei denn, man hielt es für rufschädigend, einen Chandler zu heiraten, der Höschenfetischist war.
So erstaunlich es ihm selbst auch vorkam, er war jetzt bereit, eine Bindung einzugehen – eine, die mehr zu bieten hatte, als es sich ihm nach dem Verlieren der Münzwette vorzustellen möglich gewesen war. Aber ehe er Charlotte diese Idee unterbreitete, musste er sie davon überzeugen, dass er einen guten Ehemann und Vater abgeben konnte, dass er mehr wollte als eine bequeme Fernehe. Wie viel mehr, das musste er noch durchdenken. Die Frage war, wie viel er von seiner Karriere, seinen Reisen zu opfern bereit war. Er hatte Verpflichtungen, Menschen, die sich auf ihn verließen, und wirklichen Spaß an seinem Beruf. Er wollte ihn nicht verlieren, wenn seine Beurlaubung vorbei war.
Sein augenblickliches Ziel war persönlicher Natur.
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