Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
resigniert, weil sich kein Artgenosse meldete. Unverwandt starrte es auf die Neuankömmlinge, die sich auf das Ufer zukämpften und mit letzter Kraft an Land krabbelten. Heftig atmend blieb Sörli stehen, seine Flanken pumpten wie Blasebälge. Lies rutschte aus dem Sattel. Das Schaf flitzte los und hoppelte im Zickzack um die Felsen herum. Lies wischte sich durchs Gesicht und machte sich an die Verfolgung. Lämmer fangen, das hatte sie gelernt. Daher kam Solveig nicht weit, und mit einem beherzten Griff an die kurzen Hörner packte sie es und schleifte es zum Pferd zurück, wo sie nach kurzem Überlegen mit der linken Hand den Steigbügelriemen abfriemelte und dem Tier um den Bauch schlang, damit es nicht wieder abhaute. »Wenigstens sind wir nicht umsonst geschwommen«, knurrte sie. Über ihnen zuckte der erste Blitz. Es krachte ohrenbetäubend, und am anderen Ufer rannte Jói völlig aufgelöst hin und her, doch seine Stimme war durch den Sturm, der von einem Moment auf den anderen um sie herum losbrach, kaum noch zu hören.
»Scheiße!«, schrie Lies auf. Der Himmel glich einer schwarzen Wand, die den Tag verschlang, obwohl es noch lange nicht Abend war. Rasend schnell zogen Wolken dicht über ihren Kopf, eine tiefer als die andere, oder war das hier eine brennivin- Vision, weil sie von dem Scheißzeug zu viel getrunken hatte?
Das Pferd wieherte schrill und langgezogen, deutlich spürte sie, wie es den Laut aus seinem Körper herauspresste. Es brachte sie zurück auf den Boden der Tatsachen: Sie standen am Ufer der Elfenstadt – beide nass bis auf die Knochen und halb erfroren -, und der Wind fuhr durch sie hindurch und schickte sich an, sie endgültig zu Eisblöcken erstarren zu lassen. Der Regen wurde dichter und stärker, immer mehr durchsetzt von Schnee- und Hagelkörnern, die der Donner vom Himmel schickte, die Hochlanderde zu strafen – doch wofür? Für die Leichtigkeit eines kurzen, unbeschwerten Sommers, für Tage im T-Shirt, für durchlachte Nächte …? Lies starrte auf die Tropfen. Sie klatschten erbarmungslos auf den See, peitschten das Wasser hoch. Vorbei die friedliche Stimmung von Elfengeschichten. Eine Nebelwand zog auf, verschlang das andere Ufer, und Jói, der hilflos mit den Armen gestikulierte, brüllte verzweifelt nach ihr, dann verschlang die Nebelwand auch ihn.
Lies drängte sich dichter an das Pferd. Es pumpte immer noch heftig. Müde senkte es den Kopf, und seine Nüstern blähten sich um Luft – Luft ...
»Armer Kerl.« Lies kniete neben ihm nieder, vergaß Regen und Sturm und in welcher Gefahr sie schwebten. »Was für’ne bescheuerte Idee...« Sie strich über seinen dichten Schopf. »Was machen wir denn jetzt bloß...?« Hilflos wischte sie sich den Regen aus dem Gesicht, was dumm war, weil gleich Regen hinterherkam und überhaupt ja alles nass war, von innen wie von außen. Solveig zerrte an ihrer Fessel. Lies stieß einen sehr unanständigen Fluch aus. Es gab tatsächlich immer noch Momente, wo sie sich nach dem Mief ihres Büros sehnte und nach Mittagspausen zwischen Aktendeckeln, mit Ketchup auf Servietten und drei Tage altem Trockenkuchen zu lauwarmem Kaffee...
Solveig blökte leise. Eine Windbö scheuchte Lies aus den nutzlosen Gedanken hoch und machte das Schaf munter – mit Gewalt warf es sich gegen die Fessel und riss Lies fast um. »He! He, was wird das, du dummes Schaf?!« Sie fiel hin, ihr Arm wurde länger, nur nicht den Riemen loslassen, dann wäre es weg. Verfluchtes Schaf, was waren diese Viecher doch dumm, und am schlauesten in der Tat auf dem Teller, mit Thymian und Knoblauch gebraten …
Ihr Kopf knallte zuerst gegen den Felsen. Der Donner begleitete ihre Hände, wie sie an dem Felsen entlangglitten, suchten, tasteten – und einen trockenen Platz fanden, einen Platz, wo der stoffartig dichte Regen wie abgeschnitten wirkte – ein Unterstand! Lies griff sich mit der freien Hand Sörlis herabhängende Zügel und zog ihn mit sich, rutschte über einen Fels, hörte seine Hufe neben sich – und saß im Trockenen.
Es war die Elfenburg, die ihnen da Schutz vor dem Unwetter bot. Ein Felsblock mit breiter Öffnung und einem Dach. Keuchend kauerte Lies sich in den Schutz der Felswand und hielt das Lamm an Nackenfell und Riemen fest, weil es gespannt war wie eine Feder – Solveig zwar, aber wild und ungezähmt. Mit beiden Armen presste sie es schließlich an sich. Der Hengst steckte den Kopf unter das Felsdach. Das Hinterteil noch draußen im Regen, knickte er
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