Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
Schultern. »Jedenfalls rastete er gleich neben der Elfenburg – da hinten, dieser große Felsen, siehst du den? Als sie kamen, um ihn zu suchen, fanden sie nur sein Gepäck. Und Fußspuren.«
»Fußspuren«, sagte Lies ungläubig. Kalt wanderte es ihren Rücken herauf. »Was für Fußspuren...?«
»Die Fußspuren führten um den Felsen herum – dann verschwanden sie. Es gab keine weiteren Fußspuren in irgendeine Richtung. Sie hörten einfach auf.« Seine Augen waren blau und tief wie ein Brunnen, und unter der Haut seines Kiefers sah man, wie die Muskeln spielten …
»Sie hörten auf…«
»Sie hörten auf, ja.« Seine dunkle Stimme übertönte gerade noch so den Wind. »Die Elfen wohnen in den Felsen, und dorthin haben sie auch den Reisenden gelockt.«
»Wie lockt man jemanden in einen Felsen?«, flüsterte sie.
Jói reichte ihr die Flasche und beugte sich vor. »Niemand weiß das. Das wissen ja nur die, die dem Lockruf gefolgt sind, Lies...«
Dem Lockruf gefolgt.Andächtig trank sie, einen Schluck, noch einen. Wohliges Kribbeln wanderte von den Füßen an ihr hoch... ›Die Elfen kitzeln mich, ist das ein Lockruf‹, dachte sie glucksend und zwang sich, vernünftig zu sein und die brennivin -Flasche zuzuschrauben. Die Steinwüste wirkte schon weniger bedrohlich. Vielleicht weil sie nun wusste, dass Elfen hier wohnten und dass sie doch nicht allein war. Es kribbelte überall. Sie sah Jói an. Es kribbelte, nicht nur in den Füßen. Elfen. Ein hübsches Wort. Elfen klang nach Kindern und nach Kuchen. Nach Tante Tines putzig gedecktem Kaffeetisch im Schrebergarten mit den vielen bunten Sommerblumen …
In der Ferne donnerte es. Die Elfen zerstoben, der Kuchen verschwand, und Jói schaute besorgt drein. Lies rieb sich die Augen. Er hatte wohl Recht, falls es ein Gewitter gab, würden sie sich langsam beeilen müssen, bei Gewitter saß auch ein Isländer lieber daheim auf der Ofenbank. Ofenbank – Wärme – ein heißer Kaffee – Lies schluckte. Gott, war sie müde und hungrig und überhaupt …
Ein letztes Mal sah Jói ihr in die Augen. »Alles okay?«
»Hmhm...« Sie ließ die Flasche in die Jackentasche plumpsen. Genug getrunken, ihr war schon ganz warm. Fahrig sortierte sie irgendwelchen Zügelkram, um seinem Blick auszuweichen, und das weiße Pferd seufzte über so viel Dummheit, brennivin zu sich zu nehmen, obwohl man ihn nicht vertrug, und mit Männern allein zu sein, die man auch nicht vertrug.
Jói runzelte die Stirn, als er um sich schaute. »Zum Glück sind alle Schafe unten. Lass uns aufbrechen, Lies. Gewitter gibt es hier oben im Hochland ganz selten, aber wenn, kann es gefährlich werden...«
»Jaaa – was... was ist das? Das dort? Ich meine...« Lies schirmte die Augen ab, erwachte. Hatte sie tatsächlich zu viel von dem scharfen Zeug getrunken? Verflucht. Die Steine tanzten. Die Steine? Nein. Da war etwas anderes … Auf der anderen Seite des endlos langen Sees glaubte sie jetzt etwas zu erkennen, etwas Tanzendes – Unsinn, nein – etwas Umherlaufendes. Kein Stein. Das war kein Stein. Ein Schaf. Das war doch ein Schaf. »Schau mal – da...«
Jói drehte sich um, folgte ihrem Blick. Der Wind zauste aufdringlich an seinen Haaren und zog den Schal aus dem Jackenkragen. Von Minute zu Minute verdüsterte sich der Himmel mehr, und das Donnergrollen kam näher. Das Hochland war und blieb ein wilder Ort, und der Mensch hatte sich stets bewusst zu sein, dass er nur geduldeter Gast hier oben war. Jederzeit konnte es der Natur gefallen, ihm einen Tritt zu verpassen. Jetzt gerade drohte ein Tritt, das verriet der immer stärker werdende Wind.
»Wir müssen ins Tal reiten, wir haben keine Zeit mehr …«
»Aber Jói, da ist noch ein Schaf! Siehst du nicht – dahinten!« Sie fummelte das kleine Fernglas aus der Jackentasche und drehte hektisch an dem Rädchen zum Scharfstellen. Ein Schaf. Ein braunes Schaf. Laut blökend rannte es am Ufer entlang, zu einfältig, um den langen Weg um den See herum zu finden, jetzt wo alle anderen Schafe verschwunden waren. Es war das braungefleckte Lamm, dem sie ganz zu Anfang auf die Welt geholfen hatte. Ihr erstes Lamm. Solveig. Beinahe wäre ihr der Name nicht eingefallen. Solveig.
Jói hatte sich schon in Bewegung gesetzt und den Abstieg begonnen. Der Wind schubste sein Pferd vorwärts, als spiele er den Rausschmeißer vom Hochland, und umsichtig trippelte der Braune den steilen Hang hinunter. Lies sah sich um. Man sah den Wind hier oben nicht, weil sich
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