Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
nichts bewegte. Es gab ja nur Steine in dieser Einöde, und selbst die wenige Erde war zu schwer, um aufgewirbelt zu werden. Man hörte ihn nur. Man hörte ihn, und man fühlte seine geballte Kraft, die gegen den Rücken drückte, und die mehr versprach – viel mehr …
Sörli lief auf den See zu. Lies war sich nicht mehr sicher, ob tatsächlich sie ihn dazu angetrieben hatte. Sie wusste nur, dass der See nicht tief aussah und dass Jói mal erzählt hatte, wie sie trotz der Eiseskälte brennivin trunken manchmal hier oben gebadet hatten... Flach wie eine Scheibe lag er vor ihr. Noch wurde die Oberfläche nur vom Wind gekräuselt, am Ufer schwappten kleine Wellen. Den See selber schien der Wind nicht zu berühren. Er wirkte sogar weit weniger bedrohlich als die regungslose Steinwüste. Lies biss sich auf die Lippen. Einfach hindurchreiten. Wieso nicht. Starr sah sie geradeaus, und Sörli lief in die Richtung. Als das Wasser auf sie zukam, bekam sie es mit der Angst zu tun. Wer hatte behauptet, das hier sei eine Pfütze? Sie klammerte sich an die Mähne, zog am Zügel, doch das weiße Pferd ließ sich nicht mehr aufhalten, im Gegenteil, sein Hals wuchs in die Breite und in die Höhe, und es schnaubte vor Entschlossenheit, den See zu erobern – oder bildete sie sich das ein? Wer von ihnen beiden wollte in den See?? Vorwärts ging es, Schritt für Schritt über das feste Ufer. Sie hätte noch aus dem Sattel rutschen können, doch sie tat es nicht …
»Bist du sicher...«, flüsterte sie und duckte sich auf Sörlis Rücken. Es waren doch nur dreißig Meter... Dreißig Meter? Oder fünfzig? Wasser spritzte auf, mit stampfenden Hufen marschierte Sörli in den See hinein, einfach Lies’ Blick hinterher und geradewegs auf das andere Ufer zu, wo das Lamm immer noch orientierungslos hin und her rannte. Obwohl es auf die vermeintlich kurze Entfernung deutlich zu erkennen war, verschwamm es vor ihren Augen – der verfluchte brennivin , was hatte sie auch so viel davon getrunken...?!
»Lies!!!! Bist du wahnsinnig!?!«, brüllte es da hinter ihr, und der Wind lachte und ließ die Stimme wegkippen. Lies konnte sich nicht mal umdrehen, denn das Pferd versank mit einem Mal unter ihr im Wasser, schnaubend, prustend, und zog Lies mit sich in die Tiefe, dass sie einen Schrei ausstieß – der See war lange nicht so flach, wie er ausgesehen hatte! Sörli strampelte heftig mit den Beinen. Ihr Herz klopfte wild – untergehen, sie würden ersaufen, alle beide – war sie denn wahnsinnig geworden?
»Verdammter Sprit!«, jammerte sie, »nie wieder trink ich davon, nie wieder...« Hektisch tastete sie nach der Mähne und bemerkte, wie trotz ihrer Angst unter ihr seltsame Ruhe einkehrte. Das Pferd blieb auf derselben Höhe und bewegte sich kaum noch – oder doch? Es lag ruhig im Wasser, und nur die Beine bewegten sich. Lies hatte nicht gewusst, dass Pferde so gut schwimmen können, trotzdem hatte sie das Gefühl, mit dem Schimmel unterzugehen, er sank und sank... Nein, er sank nicht, er schwamm, Zug um Zug um Zug vorwärts, schnaubend, vorwärts. Sie versuchte, den Pferdeleib zu umklammern, und wurde vom Wasser aus dem Sattel gehoben, ihre Beine schwammen wie zwei Flossen neben dem Pferd, und krampfhaft hielt sie sich an Sattel und Mähne fest, damit sie Sörli nicht verlor. Sie fühlte, wie durch die Ritzen der Gummihose allmählich das Wasser in die Stiefel drang, eiskaltes Wasser, das am Bein entlangkroch, die Skiunterwäsche durchtränkte, Beine, Hintern, alles nass machte und tödlich kalt werden ließ… Kraftvoll paddelte das Pferd vorwärts, brachte Meter um Meter hinter sich, schnaufte und konnte den Kopf so gerade über Wasser halten, und doch war es so voller Energie und souverän, als täte es das nicht zum ersten Mal. Lies liefen Tränen durchs Gesicht – oder Wasserspritzer -, sie bekam kaum Luft vor Angst, das Pferd könnte unter ihr verschwinden, absaufen, von einem unterirdischen Vulkan aufgesaugt werden, und so hielt sie sich an ihm fest, machte sich leicht und schwamm im Geiste mit – und zieh – und zieh – und zieh – und zieh …
Hinter ihr brüllte Jói gegen den Wind an. Es begann ärgerlich zu regnen. Immer dickere Tropfen klatschten auf sie nieder. Der Wind riss ihr grinsend die Mütze vom Kopf, gleich darauf wusch er sie mit einem Schwall Wasser – willkommen in Island ! Hustend und spuckend duckte Lies sich hinter Sörlis Mähne und suchte das Schaf am Ufer.
Es hatte innegehalten, erschöpft und
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