Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
mit der Hinterhand ein und döste einfach weg, wie nur ein Pferd das kann. Lies schniefte. Das Unwetter tobte über der Hochebene, als sei es wütend, dass sie diesen Platz gefunden und sich vor ihm in Sicherheit gebracht hatte. Jói und den See konnte sie schon lange nicht mehr erkennen. Es hatte alles Licht verschlungen und brachte eisige Kälte und Nässe vorbei – der Regen wechselte sich ab mit Hagelkörnern und Schneegriesel -, um auf alle erdenkliche Art und Weise Lies und ihre Schutzbefohlenen zu traktieren. Doch es gelang ihm nicht, auch nur einen Tropfen unter den Felsen zu bringen, dafür sorgte wohl der Oberelf, in dessen Haus sie sich geflüchtet hatte.
»Scheiß Island«, murmelte sie und zog die brennivin -Flasche aus der Tasche, ohne Solveig loszulassen. Das metallische Klirren des Flaschenverschlusses klang sehr deplaziert. Der Hengst schnaubte warnend. »Ach, komm. Wer weiß, wie lange wir hier hocken müssen.«
In langen, grauen Streifen rauschte der Regen auf das Land nieder, prügelte sich zwischen die Steine und sprang wild tanzend wieder hoch, um dem Donner zu drohen, der von oben lachte. Schwer lag die Nässe auf der Lunge, und Lies spürte, wie sie durch die nassen Klamotten von innen langsam auskühlte. »Scheiß Island.«
Island aber hatte sie gepackt, Scheiß hin oder her. Sie saß hier, hoch oben über der Zivilisation, weit weg von Pesto, Kino und Konto, ein Schaf und ein Pferd neben sich, um sich herum nackter Fels, der seit Urzeiten hier lag und allen Unwettern trotzte. Das sanfte Lied, das sie vorhin gehört hatte und das nun aus der Luft auf sie herabregnete. Hohe Töne, fein wie ein Seidengespinst, die irgendwie nicht hierherpassten und doch hierhergehörten. Und sie begriff, dass ihr Leben daheim sie nicht mehr interessierte. Ihr verdammter Job nicht, die Eltern nicht und auch Thomas nicht mehr. Silke nicht, das Kino, Café, der Judoverein nicht. Fernsehen, Zeitung, Bücher, CDs nicht.
Island hatte sie gepackt. Tränen kullerten über ihre Wangen, und sie drückte das Gesicht in Solveigs dichtes, fettiges Fell. Island hatte sie gepackt, der Geruch dieses Schaffelles, die weiche Schmiere, die es auf der Haut hinterließ, die kühlen grünen Augen des Tieres, das nur zwischen Futter und Nicht-Futter zu unterscheiden wusste und trotzdem so freundlich wirkte, der stechende Geruch seiner Köttel, die es überall hinfallen ließ, und der kräftige Geschmack vom Fleisch seiner Artgenossen. Das herbe Aroma der Schafsmilch und das Gefühl, daraus gewonnenen Käse mit dem Finger über eine Scheibe Brot zu streichen. Der klebrige Pelz auf den Zähnen, wenn man hineinbiss. Der unvergleichliche Duft von selbstgeräuchertem hángikjöt , Geruch von glimmendem Schafsdung. Selbstgebackenes Brot. Wildgänseeier. Moos unter nackten Füßen. Wollgras zwischen den Fingern. Nadelstiche im Gesicht vom Regen, und Wind in den Haaren, immer und immer und zu jeder Tageszeit. Licht – Licht, den ganzen Tag lang. Das Lied aus der Atmospäre mit Tönen wie Seidengespinst, fein und lieblich und stark genug, den Regen zu übertönen. Fliegen auf vier Beinen, eine dichte Mähne vor sich flattern sehen. Glück, oder was es war.
Island hatte sie gepackt.
Lies wurde ruhig.
Der Regen war nicht mehr wichtig, und Jói würde sich wohl selbst geholfen haben. Sie zog den einen Mundwinkel hoch und versuchte zu lachen. Und wurde gleich wieder ernst. Jói. Er gehörte dazu, er hatte sie gepackt. Er wartete am anderen Ufer... Lies seufzte und genoss das Gefühl, das dieser Satz in ihr auslöste.
Er wartete auf sie.
Die Elfen, die sich herangeschlichen hatten, um sie zu sich einzuladen, drehten um und verschwanden wieder – etwas enttäuscht, aber so war es nun mal. Nicht jeder war es wert, abgeholt zu werden. Diese hier hatte einen anderen Weg vor sich, und so blieb die Elfentüre zu.
Lies sah sie davonziehen und mit dem Sprühnebel des Regens eins werden. Sie lehnte den Kopf gegen die Felswand. Das Kribbeln war wieder da, wenn sie an das Festmahl dachte. Feines Schaffleisch, Kirschkuchen, eine Rumba mit Jói. Versonnen starrte sie den grauen Himmel an, die Arme eng um sich geschlungen. Eine Rumba mit Jói. Das feingesponnene Hochlandlied. Wozu irgendwo anders hingehen?
»Liiiies!« Wie um sie zu foppen, ließ der Wind Jóis Stimme über den See dringen. Sie schreckte hoch. Wie lange hockte sie hier schon, träumend, über Träumen hinwegfrierend…? Es war verflucht kalt geworden. Der Regen hatte etwas
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