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Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Titel: Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dagmar Trodler
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nachgelassen. Das Gewitter war vorerst abgezogen, und Sörli hob den Kopf. Wollen wir?
    »Wollen wir?«, fragte Lies zurück. Der Wind lachte pfeifend, dass sie es nicht schafften, dass sie die Orientierung verlieren würden. Ertrinken würden. Kämpferisch sah sie auf den See. Wild sah der aus, schwarz wie ein Meer aus Tinte, aufgewühlt – doch nach wie vor nur drei ßig Meter. Oder fünfzig. Man konnte es schaffen. Sie hatten es vorhin geschafft – sie würden es wieder schaffen. Hatte sie überhaupt eine Wahl?
    Es war ausgesprochen ekelhaft, sich in nassen Klamotten vorwärtsbewegen zu müssen. Alles klebte, fühlte sich hart und eisig auf der Haut an, und sie fror wie ein Schneider. Es war soooo kalt – wie konnte sie da noch mal in das Wasser gehen?! Sie konnte nicht, aber sie musste. Ein letzter, großer Schluck aus Jóis Flasche, um das innere Feuer am Brennen zu halten, obwohl sie wusste, dass das gefährlich war, dann rappelte sie sich auf. Am Sattel hing ein Strick – den schlang sie Solveig zusätzlich um den Leib, als doppelte Sicherung zum Riemen, an dem es bereits gefesselt hing, und damit sie es besser hinter sich herziehen konnte, denn Solveig fand die Idee, auf das Wasser zuzugehen, alles andere als einladend und sträubte sich. Mit sehr müden Beinen erklomm sie das Pferd, sortierte die Zügel. Der Wind hielt inne und ließ den Regen ausnahmsweise mal senkrecht herunterrauschen. So fiel er ihr in den Kragen, rann kichernd und neckend und eisig kalt ihren Rücken hinunter.
    »Los!«, munterte sie das Pferd und sich selber auf, und Sörli zog los, ihrem Blick hinterher, immer geradeaus, auf das Wasser zu, das den schwarzen Himmel spiegelte und warnte – betritt mich nicht – lass es bleiben – geh zu den Elfen…
    »Los!« Am anderen Ufer war Jói zu erkennen. Er hatte die ganze Zeit dort gewartet. Jói war das Ziel.
    Ein letztes Mal das Gaspedal gedrückt und die Beine an den Pferdeleib gelegt. Wasser spritzte hoch, als das Pferd in den See töltete, das Schaf blökte entsetzt auf, weil der Strick es einfach mitriss – es strampelte, das spürte Lies deutlich, der Strick schnitt durch den Handschuh hindurch in ihre Hand ein, traktierte die Finger, trotzdem ließ sie nicht los, sondern zerrte vielmehr an dem Strick.
    Und dann sanken sie dahin, rauschten scheinbar in die Tiefe hinab, das Wasser schwappte an ihren Beinen hoch, der Sattel, ihr Hintern, alles hing im See – Lies kreischte auf, sie hatte ganz vergessen, wie widerlich sich das anfühlte, die Kälte, die hochsteigende Nässe und das Gefühl, im flüssigen Eis gleich zu ertrinken... Doch wie auch vorhin fing sich das Pferd. Es begann zu paddeln, schnaubend und prustend, und zog sich energisch vorwärts. Das Schaf lag neben ihnen im Wasser, erst stumm vor Entsetzen, dann panisch strampelnd. Mit eisernem Griff hielt Lies es am Strick und bei den Hörnern, trotzdem riss sein Gewicht ihr beinahe den Arm aus dem Gelenk. Mit den Knien versuchte sie gegen den Strom am Pferd zu bleiben und arbeitete gleichzeitig daran, das Schaf näher zu sich an den Sattel zu ziehen, ohne von ihm verletzt zu werden, während Sörli unbeirrt strampelnd weiterschwamm und dem Regen trotzte, der wieder auffrischte und, vom Wind geschickt, von vorne auf sie einprasselte, als habe er den Auftrag erhalten, sie am Fortkommen zu hindern. Angst schlich sich in Lies’ Herz – was, wenn sie es nicht schafften? Wenn sie zu schwer war, dazu das Schaf und seine Erschöpfung! Sie selber fühlte sich immer schwächer, die Kälte hatte ihre Knochen ergriffen und biss wie ein wilder Hund, sie spürte Schmerzen, solche Schmerzen! Noch nicht einmal die Mitte des Sees war erreicht, und ihr kam es vor, als erlahmten auch die Bewegungen des Hengstes, als würde sein Keuchen lauter, als käme das Wasser näher, weil sie sanken – doch sie sanken...!
    »Bring uns heim!« Sie beugte sich über ihn und fasste mit der Linken in seine Mähne. »Ich lass dich frei…«
    Vielleicht war es das Versprechen von Freiheit. Oder die Dringlichkeit in ihrer Stimme – jedenfalls schöpfte der Hengst neue Kraft, sich und seine schwere Last vorwärtszuziehen, er pflügte durch die Wellen, die der Wind ihnen hinterhältig von der Seite schickte, Zug um Zug um Zug. Lies wurde eins mit seinem Atem, wenn er keuchte, tat sie es auch, sie vergaß Nässe und Kälte und verschmolz stattdessen mit dem Körper unter ihr, konzentrierte sich auf die Bewegungen, vorwärts. Vorwärts, halt durch – halt

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