Der letzte Streich des Sherlock Holmes, Bd. 4
Frau, die vor nervöser Erschöpfung halb ohnmächtig war. Ihr hageres, abgezehrtes Gesicht zeigte die Spuren einer kürzlich erlebten Tragödie. Ihr Kopf hing schlaff auf die Brust, und als sie ihn hob und die stumpfblikkenden Augen auf uns richtete, sah ich, daß ihre Pupillen wie dunkle Punkte in einer großen grauen Iris wirkten. Sie stand unter der Wirkung von Opium.
»Ich hielt am Tor Wache, ganz so, wie Sie befohlen hatten, Mr. Holmes«, sagte unser Kundschafter, der entlassene Gärtner. »Als der Wagen herauskam, verfolgte ich ihn bis zum Bahnhof. Sie benahm sich wie eine Schlafwandlerin; aber als sie versuchten, sie in den Zug zu verfrachten, kam sie zu sich und wehrte sich. Sie drängten sie in das Abteil. Sie kämpfte sich frei. Ich half ihr, schaffte sie in eine Droschke, und jetzt sind wir hier. Ich werde nie das Gesicht am Abteilfenster vergessen, als ich sie wegholte. Wenn es nach ihm ginge, hätte ich nicht mehr lange zu leben – dieser schwarzäugige, finstere gelbe Teufel!«
Wir trugen sie nach oben, legten sie aufs Sofa, und bald befreiten einige Tassen des stärksten Kaffees sie von den Nebeln der Droge.
Holmes hatte nach Baynes geschickt und machte ihm die Situation in wenigen Worten klar.
»Sir, Sie haben mir den Beweis verschafft, den ich brauchte«, sagte der Inspektor herzlich und drückte meinem Freund die Hand. »Ich war von Anfang an auf derselben Fährte wie Sie.«
»Was denn! Sie waren hinter Henderson her?«
»Aber ja, Mr. Holmes. Als Sie in ›High Gable‹ durchs Gebüsch krochen, saß ich oben auf einem Baum und beobachtete Sie. Es ging nur darum, wer zuerst an den Beweis kommen würde.«
»Und warum haben Sie dann den Mulatten verhaftet?«
Der Inspektor lachte in sich hinein.
»Ich war mir sicher, Henderson, wie er sich nennt, fühlte, daß er unter Verdacht stand, und er würde sich still verhalten und nichts machen, solange er sich in Gefahr glaubte. Ich verhaftete den Falschen, damit er denken sollte, wir beobachteten ihn nicht mehr. Ich wußte, daß er sich dann wahrscheinlich verziehen und uns die Gelegenheit geben würde, an Miss Burnet heranzukommen.«
Holmes legte dem Inspektor die Hand auf die Schulter.
»Sie werden in Ihrem Beruf noch hoch aufsteigen. Sie besitzen Instinkt und Intuition«, sagte er.
Baynes wurde vor Freude rot.
»Ich hatte die ganze Woche über einen Polizisten in Zivil am Bahnhof postiert. Wohin auch die Leute von ›High Gable‹ fahren, er wird sie im Visier behalten. Es muß ihn hart angekommen sein, als Miss Burnet sich losriß. Aber Ihr Mann hat sie ja in Empfang genommen, und alles ist gut ausgegangen. Ohne ihre Aussage können wir keine Verhaftung vornehmen, soviel steht fest, und je eher wir ein Protokoll aufsetzen, desto besser ist es.«
»Sie wird von Minute zu Minute kräftiger«, sagte Holmes und warf einen Blick auf die Gouvernante. »Aber verraten Sie mir, Baynes, wer ist dieser Henderson?«
»Henderson«, antwortete der Inspektor, »ist Don Murillo, den man früher einmal den Tiger von San Pedro nannte.«
Der Tiger von San Pedro! Augenblicklich erinnerte ich mich an die Geschichte dieses Mannes. Er hatte sich einen Namen gemacht als der schlimmste und blutrünstigste Tyrann, der jemals ein Land unter dem Vorwand, Zivilisation zu errichten, regierte. Stark, furchtlos und energiegeladen, wie er war, besaß er genug Kraft, seine verabscheuungswürdigen Laster einem geduckten Volk über einen Zeitraum von zehn oder zwölf Jahren aufzuzwingen. Sein Name war der Schrekken von ganz Mittelamerika. Am Ende gab es einen allgemeinen Aufstand gegen ihn. Aber er war so schlau, wie er grausam war, und beim ersten Geflüster über eine heraufziehende Unruhe ließ er heimlich seine Schätze an Bord eines Schiffes bringen, dessen Mannschaft aus ergebenen Anhängern bestand. Der Palast, den die Aufständischen am nächsten Tag stürmten, war leer. Der Diktator, seine beiden Kinder und sein Sekretär waren mitsamt den Reichtümern entkommen. Von diesem Augenblick an war er vom Antlitz der Erde verschwunden, und seine Persönlichkeit wurde ein häufig erörterter Gegenstand der europäischen Presse.
»Ja, Sir, Don Murillo, der Tiger von San Pedro«, sagte Baynes. »Wenn Sie die Sache näher betrachten, Mr. Holmes, werden Sie herausfinden, daß die Farben von San Pedro Grün und Weiß sind, so wie es auch in der Nachricht vorkommt. Henderson nannte er sich, aber ich habe
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