Der letzte Streich des Sherlock Holmes, Bd. 4
Märzabend, und ein scharfer Wind trieb uns Nieselregen ins Gesicht – eine passende Begleiterscheinung zu der öden Gemeindeweide, durch die der Weg lief, und dem tragischen Schauplatz, zu dem er führte.
II
Der Tiger von San Pedro
Ein Marsch von einigen Meilen, bei dem wir nur Kälte und Melancholie empfanden, brachte uns vor ein hohes hölzernes Tor, hinter dem wir in eine düstere Kastanienallee eintraten. Die gewundene schattige Auffahrt führte zu einem niedrigen, dunklen Haus, das sich tiefschwarz gegen den schieferfarbenen Himmel abhob. Aus einem Fenster links vom Eingang schimmerte ein mattes Licht.
»Das ist der Konstabler vom Dienst«, sagte Baynes. »Ich werde ans Fenster klopfen.« Er ging über den Grasstreifen und schlug gegen die Scheibe. Durch das beschlagene Glas sah ich undeutlich einen Mann, der von einem Stuhl neben dem Feuer aufsprang; gleichzeitig hörte ich aus dem Zimmer einen durchdringenden Schrei. Einen Augenblick später öffnete ein Polizist. Sein Gesicht war weiß, heftig atmend stand er in der Tür. Eine Kerze schwankte in seiner zitternden Hand.
»Was ist denn los, Walters?« fragte Baynes streng.
Der Mann wischte sich die Stirn mit einem Taschentuch und seufzte erleichtert auf.
»Ich bin froh, daß Sie gekommen sind, Sir. Der Abend zog sich hin, und mir scheint, meine Nerven sind nicht mehr so gut, wie sie einmal waren.«
»Ihre Nerven, Walters? Ich dachte immer, Sie hätten nicht einen einzigen Nerv im Leib.«
»Ach, Sir, das macht dieses einsame, stille Haus, und dann die eigentümliche Sache in der Küche. Als Sie klopften, dachte ich, es kommt wieder.«
»Was sollte wiederkommen?«
»Der Teufel, Sir. Er war am Fenster.«
»Was war am Fenster? Und wann?«
»Ungefähr vor zwei Stunden. Es fing gerade an, dunkel zu werden. Ich saß auf dem Stuhl und las. Ich weiß nicht mehr, warum ich hochblickte, aber da sah ich ein Gesicht, das mich durch die untere Scheibe anstarrte. Mein Gott, Sir, was das für ein Gesicht war! Das wird mich noch im Traum verfolgen.«
»Na, na, Walters! So redet doch kein Konstabler!«
»Ich weiß, Sir, ich weiß es. Aber das hat mich durchgeschüttelt, es hat keinen Zweck, das zu leugnen. Es war nicht schwarz, Sir, das Gesicht, es war nicht weiß, es hatte überhaupt keine Farbe, die ich kenne, die war ganz seltsam, wie Ton mit einem Schuß Milch. Und dann die Größe – es war zweimal so groß wie Ihr Gesicht, Sir. Und wie es aussah! Mit starrenden Glupschaugen und weißen Zähnen wie ein hungriges Raubtier. Ich schwöre Ihnen, Sir, ich konnte keinen Finger rühren, konnte nicht atmen, bis es weghuschte. Ich rannte raus und in die Büsche, aber Gott sei Dank war niemand zu sehen.«
»Wenn ich nicht wüßte, Walters, daß Sie ein guter Mann sind, würde ich Ihnen zu einem schriftlichen Tadel verhelfen, denn auch wenn es der Leibhaftige selbst gewesen wäre, so sollte ein Konstabler im Dienst nie Gott dafür danken, daß er ihn nicht ergreifen konnte. Glauben Sie nicht, daß die ganze Sache nur eine Erscheinung war, die auf überreizte Nerven zurückzuführen wäre?«
»Das zumindest werden wir gleich haben«, sagte Holmes und zündete seine Taschenlaterne an. »Ja«, berichtete er nach einer kurzen Untersuchung des Grasstreifens, »Schuhgröße zwölf, würde ich sagen. Wenn alles so groß ist wie seine Füße, muß es sich um einen Riesen handeln.«
»Wo ist er abgeblieben?«
»Er scheint durchs Gebüsch gebrochen und auf die Landstraße gelaufen zu sein.«
»Nun«, sagte der Inspektor mit ernstem, nachdenklichem Gesicht, »wer immer es auch war und was immer er wollte, jetzt ist er nicht mehr hier, und wir haben uns im Augenblick mit anderem zu befassen. Mit ihrer Erlaubnis, Mr. Holmes, führe ich Sie durchs Haus.«
Die Durchsuchung der verschiedenen Schlaf- und Wohnzimmer ergab nichts. Anscheinend hatten die Leute wenig oder nichts von ihrem Eigentum mitgebracht. Alle Einrichtungsgegenstände bis zu den kleinsten Dingen waren mit dem Haus übernommen worden. Wir fanden einen Haufen Kleidungsstücke mit dem Firmenzeichen Marx & Co, High Holborn. Telegraphische Erkundigungen waren bereits eingeholt worden und hatten ergeben, daß Marx nichts von seinem Kunden wußte, außer daß er prompt bezahlte. Allerlei Kram, einige Pfeifen, ein paar Romane, zwei davon in Spanisch, ein altmodischer Zündnadelrevolver und eine Gitarre waren unter den mehr persönlichen Habseligkeiten
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