Der letzte Tag: Roman (German Edition)
Augenhöhlen waren leer, die Nasen schon lange verwest. Aber warum hatte man sie hierher gebracht? Wozu? Sie saßen auf den Stühlen wie Zuschauer, die auf eine Aufführung warteten. Hier also waren die ganzen Stühle hingebracht worden, die sie im Erdgeschoss vermisst hatten.
Die stillen, nach Verwesung riechenden Toten saßen da und schauten auf die beiden Betten, die am äußersten Ende des Penthouse-Zimmers
standen. Kyle hielt den Atem an, bis er nicht mehr konnte und nach Luft schnappen musste. Er durchquerte den Raum, dessen Wände mit lila Stoff tapeziert waren, der im kalten Licht der Fackel seiden schimmerte. Vielleicht hyperventilierte er ja immer noch wegen der Gräuel, die sich nicht allzu weit hinter ihm abgespielt hatten. Der kontinuierlich gesteigerte Horror, der am ersten Tag der Filmaufnahmen in London begonnen hatte, schien nun seinem Höhepunkt entgegenzustreben. Er ging auf das zu, was die sitzenden Leichen aus ihren leeren Augenhöhlen anstarrten, und trat vor die beiden Betten.
»O Gott, nein«, sagte er zu sich und der Welt, die niemals mit diesem Anblick konfrontiert werden sollte, auch nicht mit Andeutungen davon. Und er erinnerte sich nur allzu gut an seine eigenen schrecklichen Nächte, als er aus albtraumartigem, lähmendem Schlaf gerissen worden war und hatte feststellen müssen, dass die nächtlichen Besucher sich seines Körpers bemächtigt hatten und er selbst sich in einer ganz anderen Dimension bewegte, mit den krummen Gliedern und klauenartigen Händen einer anderen Existenz . Einer dieser Existenzen hier. In dem breiten Bett konnte er unter einem durchsichtigen Plastikzelt die vagen Umrisse eines ausgemergelten Körpers erkennen, der mithilfe der teuren lebenserhaltenden Apparate vor der schädlichen Umgebung und den wie einbalsamiert auf weißen Stühlen sitzenden Gestalten geschützt werden sollte.
Aber es wäre besser gewesen, er hätte diese elfenbeinartigen Füße nie gesehen, auch nicht dieses schrumpelige Gesäß, das an vertrocknete Feigen erinnerte, auch nicht die länglichen, von krebsgeschwürartigen Flecken übersäten Gliedmaßen, diese Arme, die nach unten hingen, und die Beine, die gerade ausgestreckt waren. Auch hätte er nie diesen kahlen Schädel sehen sollen, der von einer fortgeschrittenen Gelbsucht befallen schien und dessen Gesichtshaut so eingeschrumpft war, dass es aussah, als wäre sie an den Knochen festgesaugt. Niemals hätte er sich das
anschauen sollen, aber er konnte die Augen nicht abwenden, so faszinierte ihn der perverse Anblick dieses Dings, das mindestens einen Meter horizontal über der Bettdecke hing wie eine von unsichtbaren Fäden gehaltene Marionette. Und darunter lagen die Überreste eines menschlichen Wesens, deren Anblick nackten Horror erzeugte.
Knochige Hände und Füße schlugen und traten hinter ihm gegen die Tür. Kyle drehte sich um. Das Schloss gab nach, die Tür schwang weit auf, und die kreischende Masse, die sich draußen versammelt hatte, brach wild wogend herein. Hässliche Fratzen starrten ihn an und wandten sich ab, als der vernichtende Schein der grellen Fackel sie erfasste. Aber bald würde die Fackel verlöschen, und dann würden sie eindringen und ihn überwältigen. Hier zwischen den Stühlen, auf denen die schon Verstorbenen saßen, würde ihn sein Ende ereilen. Niemand würde es filmen. Niemand würde es dokumentieren. Diese Geschichte würde nie erzählt werden.
Und da wurde es ihm erst klar: Die aufrecht hockenden Lumpendinger, diese knochigen Gestalten auf den Stühlen, das waren einstmals ihre Anhänger gewesen, ihr Gefolge. Das waren die verschrumpelten Überreste des Hofstaats von Schwester Katherine. Das waren jene, die so unbesonnen gewesen waren, so unglaublich dreist, sich ihr zu verweigern, sie zu verlassen, sie zurückzuweisen. Vielleicht waren diese schweigenden Toten die exhumierten Opfer des Hofs in der Normandie und der Kupfermine in Arizona. Die Flüchtlinge, die sie wieder eingefangen und an einen anderen Ort gebracht hatten oder aus irgendwelchen unbekannten Gräbern herausgeholt, in denen sie verscharrt worden waren. Noch eine Demonstration, aber sehr exklusiv für ein ausgewähltes Publikum in der Schlafkammer der obersten Herrscherin. Vertrocknet, verwest, ohne Augen waren diese armen fehlgeleiteten Menschen gegen ihren Willen auf diese Stühle gezwungen worden. Als Zeugen. Aus Rache. Damit dieses Ding in
dem riesigen Bett sich an ihrem Unglück weiden konnte. Sogar noch nach dem Tod. Und wer
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