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Der letzte Tiger

Der letzte Tiger

Titel: Der letzte Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Luttmer
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brachte.
    Zwischen Motorenteilen und einer Druckluftmaschine hatte Lys Mutter ihren Verkaufstisch aufgestellt. Kaugummipäckchen hatte sie zu kleinen Türmen gestapelt, die mit Schnaps gefüllten Wasserflaschen in gerader Linie aufgereiht. Zigaretten verkaufte sie einzeln, den Zug aus der Bambuswasserpfeife auch. Den Reisschnaps bezog sie von einem befreundeten Schnapsbrenner im Heimatdorf von Lys Frau und gab ihn zu kaum mehr als dem Einstandspreis weiter. Hinter ihr an der Wand hing ein Kalender, den seit Mai niemand mehr umgeblättert hatte, und die Ehrenurkunde, die ihr das Nachbarschaftskomitee zum achtzigsten Geburtstag überreicht hatte. Rotes Papier mit erhabenen, goldfarbenen Lettern in einem dunklen Holzrahmen.
    Als Ly seine Vespa ins Haus schob, saß ein kleiner dürrer Mann bei seiner Mutter. Auf seinem Handgelenk war eine Knastnummer tätowiert. Die Nägel seiner beiden kleinen Finger waren lang genug, um sich tief im Ohr zu kratzen – ein Zeichen, dass er nicht mehr körperlich arbeiten musste. Ly verstand nicht, wie seine Mutter es mit diesen Kerlen aushielt, die an ihrem Kiosk die Zeit vertrödelten.
    »Mutter, geht es dir besser?«, fragte er und setzte sich auf einen der angebrochenen Plastikhocker.
    Sie deutete ein Kopfschütteln an, schenkte bronzefarben schimmernden Kräuterschnaps in ein Glas und schobes Ly über den Tisch zu. Der Schnaps war stark, aber die Kräuter gaben ihm einen weichen Geschmack.
    »Soll ich dir nicht doch ein paar Schmerztabletten holen?«
    Seine Mutter machte eine wegwischende Handbewegung. »Neumodischer Blödsinn«, sagte sie.
    Lys Bruder stand auf und trat an den Werkzeugschrank, der seitlich neben dem Kiosktisch stand.
    »Ich muss ein paar Tage weg«, sagte Ly. »In die Provinz Son La.« Ly wollte sich dieses Na Cai anschauen, das Truong auf seiner Karte markiert hatte. Es war momentan sein einziger Anhaltspunkt.
    »In die Berge?« Seine Mutter beugte sich vor und griff nach seiner Hand. »Ly, mein Junge, pass bloß auf. Du hast ja keine Ahnung. Böse Geister durchstreifen die Berge. Sie bringen Krankheit und Tod.«
    Der Mann mit der Knastnummer legte einen passenden Dong-Schein auf den Tisch, stand auf und ging grußlos.
    »Mutter, ich pass schon auf.«
    »Und die Hmong erst.« Seine Mutter flüsterte jetzt. »Sie haben schon wieder Waffen von den Amerikanern bekommen.«
    Ly schüttelte innerlich den Kopf. Die Hmong, eine ethnische Minderheit, lebten weit verstreut oben in den Bergen. Das Gerücht, die CIA unterstütze sie noch wie zu Zeiten des Krieges, hielt sich hartnäckig. Nicht nur bei seiner Mutter. Damals, zu Kriegszeiten, hatten sich die Hmong von den Amerikanern mehr Autonomie erhofft, genauso wie vorher von den Franzosen. Aber heute? Die Amerikaner hatten es doch gar nicht mehr nötig, den sozialistischen vietnamesischen Staat zu unterwandern. Wennwir so weitermachen wie in den letzten Jahren, dachte Ly, schaffen wir das auch selbst.
    »Gestern erst lief da diese Warnung im Radio«, flüsterte Lys Mutter.
    »Gestern?« Ly versuchte sich zu erinnern, wann bei seiner Mutter das letzte Mal das Radio gelaufen war. Es musste Jahre her sein. Zärtlich tätschelte er ihren Arm.
    Der Gedanke, wie alt seine Mutter geworden war, schmerzte ihn. Eine Weile saßen sie einfach so da. Er lauschte den Geräuschen von der Straße. Mopeds hupten. Ein Bus bremste scharf. Der Hund der Nachbarn kläffte hysterisch. Vögel zwitscherten.
    Ly drehte sich erst um, als hinter ihm ein Geländemotorrad mit aufheulendem Motor über den hohen Kantstein fuhr und vor ihrem Haus hielt. Der Fahrer hatte lange Haare und ein Piercing in der Lippe. Ly fragte sich, wieso sich jemand freiwillig so ein Metallstück durch das Fleisch bohren ließ. Der junge Mann drehte sich zu seiner Beifahrerin um, die an ihn geschmiegt auf dem Sozius saß. Ly hatte sie bislang nicht beachtet. Jetzt erst erkannte er, dass es seine Tochter war. Huong trug einen roten Helm, ein enges rotes Top und eine kurze Jeans-Latzhose, die er an ihr noch nie gesehen hatte.
    »Danke fürs Bringen und bis morgen, Lam«, sagte sie mit heller, fröhlicher Stimme, legte ihren Arm etwas linkisch um den Fahrer und drückte ihn kurz. Als sie sich umdrehte und ihren Vater sah, schoss ihr das Blut in den Kopf.
    »Hallo, Papa«, sagte sie leise und lächelte verlegen.
    Ly war aufgesprungen, packte sie am Handgelenk und zog sie mit sich ins Haus.
    »Wer war das?«
    Sie zerrte an ihrem Arm. »Lass das.«
    »Du kannst nicht einfach mit

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