Der letzte Tiger
Oberschule ihre Wege getrennt hatten, hatten sie zwar nie den Kontakt verloren, aber Ly bekam gerade den Eindruck, dass er trotzdem nicht viel von Truongs Leben mitbekommen hatte. »Welche Aufgaben hatte er sonst noch?«
»Er hatte genug zu tun, glauben Sie mir. Als Zoo sind wir auch eine Anlaufstelle für Tiere, die aus dem illegalen Handel beschlagnahmt werden. Die Auffangstelle draußen in Soc Son hat kaum noch Kapazitäten. Deshalb liefern Ihre Kollegen von dieser neuen Umweltpolizei die Tiere jetzt auch fleißig bei uns ab. Wir wissen kaum noch, wohin mit ihnen. Manchmal kommen zehn Bären auf einmal oder hundert Schildkröten.«
»Wann haben Sie Le Ngoc Truong zuletzt gesehen?«
Sie überlegte kurz. »Das muss vor etwa einer Woche gewesen sein. Er hatte ein paar Tage Urlaub genommen, um in die Berge zu fahren.«
»In die Berge?« Ly dachte an die Karte, die er bei Truong gefunden hatte. »Wissen Sie, wo er war?«
»Warum wollen Sie das so genau wissen?«, fragte sie und sah ihn jetzt durchdringend an.
»Bitte, denken Sie nach. Wo war Truong?«, fragte Ly, ohne weiter auf Ihre Frage einzugehen.
»Hm. Ich denke, in der Provinz Son La, irgendwo inder Gegend von Moc Chau. Ich habe ihn nicht gesehen, aber er muss nach seiner Reise noch mal im Zoo gewesen sein. Er hat uns Tee aus Moc Chau hingestellt und diese Milchbonbons, die sie da oben herstellen.«
Ly holte die Landkarte heraus, die er aus Truongs Wohnung mitgenommen hatte. Er hatte sie zusammen mit den Fotos und einiger der Bücher in eine Tüte gepackt. Moc Chau war eine Kleinstadt, knapp zweihundert Kilometer westlich von Hanoi. Truong hatte nur einen Ort in dieser Region markiert: Na Cai. Von Na Cai nach Hanoi hätte Truong auf jeden Fall durch Moc Chau fahren müssen. Ly fragte die Zoodirektorin, ob ihr dieses Na Cai irgendetwas sagte.
»Ist das nicht ein Grenzort zu Laos?«
Ly schaute noch mal auf die Karte. »Ein Grenzübergang ist nicht eingezeichnet. Aber bis Laos können es nur wenige Kilometer sein.«
»Doch, doch«, sagte die Frau. »Ich meine, da ist vor ein paar Jahren ein neuer Grenzübergang eröffnet worden.«
Das konnte natürlich sein, dachte Ly. Truongs Karte war nicht die neueste. »Hat Truong den Ort je erwähnt?«
»Nicht dass ich mich daran erinnern könnte«, sagte die Zoodirektorin.
Ly zeigte ihr die Ausdrucke der Tierfotos, die er bei Truong gefunden hatte. Sie schaute die Fotos durch. Auf ihrer Stirn bildete sich eine steile Falte, und Ly fragte sich, ob das die Konzentration war oder irgendetwas an den Fotos, das ihr nicht gefiel.
»Hier im Zoo sind die nicht aufgenommen worden«, sagte sie.
»Sind Sie sich ganz sicher?«
»Ich kenne doch unsere Tiere.«
»Wo kann das sonst sein?«, fragte Ly.
Sie ging die Fotos noch einmal aufmerksam durch. »Die Vegetation.« Sie zeigte auf eines der Bilder. »Das könnte in einem Botanischen Garten sein oder im Wald. Die Käfige sind rostig und sehr eng. Viel zu eng. Bei uns ist das ganz sicher nicht fotografiert worden.«
Ly nahm die Fotos wieder an sich und ließ sich Truongs Arbeitsplatz zeigen. Das Büro lag nur zwei Zimmer weiter. Im Regal standen Bücher über Tiere. Der Schreibtisch war frei geräumt. Ly zog die Schreibtischschubladen heraus, eine nach der anderen. Bis auf Taschentücher und Pfefferminzbonbons waren sie leer.
»Wo ist Truongs Computer?«, fragte Ly die Zoodirektorin, die in der Tür stehen geblieben war.
Ein amüsiertes Lächeln zuckte um ihren Mund. »Ob Sie es glauben oder nicht. Seine Buchführung hat er noch mit der Hand geschrieben. Natürlich hatte er auch einen Laptop, aber den hat er immer mit nach Hause genommen.«
Einen Computer, dachte Ly, hatte er in Truongs Wohnung nicht gefunden.
*
Zu Hause waren die Gittertüren zur Straße hin weit aufgezogen. Die Abendsonne drang durch die Blätter der Flammenbäume vor dem Haus und warf goldene Flecken auf den Boden. Unter einer aufgebockten alten BMW im vorderen Erdgeschossraum lag Lys jüngerer Bruder Hieu. Er war Mechaniker und betrieb hier seine Motorradwerkstatt. Früher hatte er damit ganz gut verdient. Bis vor ein paarJahren fuhren die Hanoier noch alte russische Minsk und ostdeutsche Simson oder MZ, die ständig repariert werden mussten. Mittlerweile allerdings hatten die Städter genug Geld für neue Fahrzeuge, die sie in den großen Vertragswerkstätten reparieren ließen. Viel Geschäft fiel da nicht mehr ab für Hieu. Zudem trank er zu viel, was auch seine letzten Aufträge in Gefahr
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