Der letzte Tiger
Polizei, oder?«
»Ich war ein Freund von Truong«, sagte Ly.
Sie gab ein ungläubiges Murren von sich.
»War jemand da?«, wiederholte Ly.
»Truong hatte nie Besuch. Es kam höchstens mal der Pizzadienst.«
»Pizzadienst?«
Einen Moment war die Frau damit beschäftigt, die Kissen enger an die Teekannen zu drücken. Dann sagte sie: »Wenn Sie so fragen. An seinem Todestag war auch jemand da. Ich hab mich noch gewundert. Sonst kommen die Lieferanten immer mit diesen Pizzamopeds. Sie wissen schon, mit den Kisten hinten drauf. Der am Todestag war aber zu Fuß. Und in Gummistiefeln. Ich dachte noch, es ist wegen des Regens.«
»Können Sie ihn beschreiben?« Vielleicht war das endlich eine Spur.
»Nein. Einer dieser jungen Burschen eben.«
»Und der Pizzadienst? Haben Sie sich den Namen gemerkt?«
Die Frau schob die Lippen vor und deutete ein Kopfschütteln an. »Mit solchem Zeugs kenn ich mich nicht aus. Aber er hatte eine rot-weiße Uniform an.«
Ly rief Lan an. Sie sollte überprüfen, ob eine der Pizzerien, deren Mitarbeiter rot-weiße Uniformen trugen, inden letzten Tagen eine Bestellung von Truong angenommen hatte.
*
Von Truongs Wohnung aus fuhr Ly zum Zoo. Er wollte sich an Truongs Arbeitsplatz umsehen. Er parkte, kaufte ein Ticket und folgte dem Weg entlang des Thu-Le-Sees, an den der Zoo grenzte. Tretboote in Schwanenform dümpelten auf dem Wasser. In Käfigen hockten Makaken auf kahlen Ästen, kleine Eulen hielten ihre Köpfe im Gefieder versteckt. In einem Raubtiergehege mit vielen kleinen abgeschlossenen Einheiten dösten Tiger und Bären. Unter den dicht gewachsenen Bäumen des Parks stand die Luft. Es waren kaum Besucher da, trotzdem drehten sich alle Karusselle, die zwischen den Käfigen aufgebaut waren. Eine Achterbahn ratterte laut über ihre Schienen. Es gab ein Spiegellabyrinth, eine Go-Kart-Anlage, eine Rollschuhbahn. Laute Musik schallte aus Dutzenden Lautsprechern. Jeder Lautsprecher ein anderes Lied. Mit handgemalten Plakaten warb der zooeigene Zirkus für seine Vorstellung mit fahrradfahrenden Bären und tanzenden Affen. Ein Schwarm winziger Mücken folgte Ly. Erfolglos versuchte er, die lästigen Insekten mit der Hand wegzuschlagen.
An einer Grillstation kaufte Ly eine Bratwurst, die wie ein Eis auf einem Holzstab steckte. Die Wurst schmeckte so trocken, als hätte sie gestern schon einmal auf dem Rost gelegen. Ly überlegte, mit einem Bier nachzuspülen, ließ es aber bleiben. Er hatte gestern wirklich schon genug getrunken. Und wahrscheinlich wäre das Bier hier sowieso schal.
Das Verwaltungsgebäude, über dessen Eingang die vietnamesischeFlagge hing, lag am äußersten Rand des Zoogeländes. Der Gang zu den Büros im Erdgeschoss war weiß gefliest. Es roch nach Scheuermittel und frischer Farbe. Ly klopfte an der Tür mit dem Schild »Nguyen Thu Nga, Zoodirektorin«.
Es war kühl im Raum. Eine Klimaanlage ratterte laut. Die Zoodirektorin, die Ly schon auf Fotos in der Zeitung gesehen hatte, saß hinter ihrem Schreibtisch, stand aber auf, als Ly eintrat und sich als Kommissar der Hanoier Polizei vorstellte. Sie war eine große kräftige Frau um die fünfzig, mit sehr kurz geschnittenen Haaren und dunklen, fast schwarzen Augen.
»Bitte, setzen Sie sich«, sagte sie und wies auf einen freien Stuhl, unter dem ein Terrier lag und schlief. Ly fiel ihre Stimme auf, sie war ungewöhnlich tief, und es klang etwas Herrisches in ihr mit.
»Der Hund tut nichts«, schob sie nach.
Ly verzichtete trotzdem darauf, sich zu setzen. Das Tier blinzelte nicht einmal, aber für ihn waren Hunde, mit denen man sich ein Zimmer teilte, eine Mode, an die er sich noch nicht recht hatte gewöhnen können. »Ich komme wegen eines Ihrer Mitarbeiter«, sagte er. »Es geht um Le Ngoc Truong.«
»Tragisch«, sagte Nguyen Thu Nga. »Aber wieso sind Sie hier? Man sagte mir, es war ein Unfall.«
»Es ist reine Routine.«
Die Frau nickte, sah aber nicht besonders überzeugt aus.
»Was genau hat Le Ngoc Truong im Zoo gemacht?«, fragte Ly.
»Er war so eine Art Bestandsverwalter. Er hat die Bücher über die Tiere geführt. Er musste neue Tiere aufnehmenund verstorbene austragen. Er hat die Tiere natürlich auch alle untersucht.«
»Machen das nicht Ärzte?«
»Truong hatte eine Zusatzausbildung als Tierarzt.«
»Das hat er mir nie erzählt«, sagte Ly.
Sie sah ihn irritiert an. »Sie kannten ihn?«
Ly nickte, fragte sich jetzt aber, wie gut er Truong wirklich gekannt hatte. Nachdem sich in der
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