Der letzte Vampir
alten, vertrauten Straßen, die sie schon tausende, zehntausende Male entlanggefahren war, erschienen gewundener, weniger freundlich. Für gewöhnlich schien der Wagen den Weg zu kennen, aber heute Nacht verlangte jede Kurve ihren Armen mehr Kraft ab. Sie bremste bei jedem Abhang und fühlte, wie sich der Wagen an jeder Steigung mühte.
Endlich lenkte sie den Streifenwagen vorsichtig neben dem Mazda in die Auffahrt und schaltete ihn aus. Einen Augenblick lang blieb sie im Auto sitzen, lauschte seinen ersterbenden Geräuschen und dem schwächer werdenden Lied der letzten Zikaden des Jahres. Dann stieß sie die Tür auf und ging durch die Garage hinein. Das Ranchhaus, das sie sich mit ihrer Partnerin teilte, war völlig still und größtenteils dunkel. Sie wollte diese Stille nicht stören, wollte keinen Schrecken in ihr Heim bringen, also machte sie kein Licht. Sie schnallte das Holster ab und hängte es auf dem Weg durch die Küche mit dem summenden Kühlschrank in einen Wandschrank. Im Korridor legte sie die Jacke ab, knöpfte die Uniformbluse auf und zog sie aus. Sie stopfte sie in den Hut und legte alles zusammen auf den Stuhl neben der Schlafzimmertür. Drinnen schlief Deanna in ihrem großen Bett, nur ein roter Haarschopf schaute unter der Decke hervor, und am anderen Ende drei perfekte kleine Zehen. Caxton lächelte. Es würde so gut sein, in dieses Bett zu schlüpfen, Deannas knochigen Rücken zu spüren, die spitzen kleinen Schultern. Sie würde sich nach Kräften bemühen, sie nicht zu wecken. Caxton öffnete den Reißverschluss der Uniformhose und zog die Stiefel aus. Sie unterdrückte das wohlige Stöhnen, als ihre Füße endlich befreit waren, stand einen Augenblick lang nur in BH und Höschen da und streckte die Arme über den Kopf.
Hinter ihr klopfte etwas gegen das Fenster. Sie schob den Vorhang zur Seite und schrie auf wie ein Säugling. Dort stand jemand, ein Mann. Seine Gesichtshaut baumelte in Streifen herab. Sie schrie erneut. Er schlug eine weiße Hand gegen die Scheibe, die Finger gespreizt. Sein Gesicht kam näher. Sie schrie erneut auf. Dann drehte der Mann sich um und rannte davon. Während sich Deanna hinter ihr regte und von der Decke befreite, konnte Caxton den Blick nicht von der dunklen Silhouette losreißen, die durch den Garten hinter dem Haus stürmte. Sie starrte ihr hinterher, bis sie zwischen den Hundezwinger und Deannas Schuppen schlüpfte und verschwand.
»Schatz, was ist denn los?«, rief Deanna immer wieder, sie hielt Caxton an den Schultern und schüttelte sie.
»Er hatte nur einen Arm«, stieß die Polizistin hervor.
6.
Das Hauptquartier der State Police in Harrisburg war ein rechteckiger Ziegelbau mit großen Fenstern und einem Funkmast auf dem Dach. Es stand nördlich der Stadt in einer strukturschwachen Gegend voller Streusalzhügel und Baseballplätzen. Trooper Caxton verbrachte den größten Teil des Tages damit, im Hof herumzusitzen und zu warten, dass Arkeley auftauchte. Eigentlich hätte das ihr freier Tag sein sollen, an dem sie mit Deanna zum Rockvale Square Outlet Store fahren und neue Winterkleidung kaufen wollte. Stattdessen saß sie hier und sah zu, wie die zivilen Funktechniker für ihre Rauchpausen an die frische Luft kamen und dann wieder hineineilten. Es war ein kühler Novembertag.
Aber die Sonne schien, und das war wunderbar. Caxton hatte nicht schlafen können, nachdem der Halbtote an ihr Fenster geklopft hatte. Deanna hatte es irgendwie geschafft, sich unter die warme Decke zu schmiegen und wieder einzudösen, aber Caxton war aufgeblieben und hatte gewartet, bis die örtliche Polizei kam und zwischen den abgestorbenen Pflanzen in ihrem Garten herumsuchte. Sie hatte mit ihnen geredet und zugesehen, wie sie hundert Fehler machten, aber das hatte keine Rolle gespielt. Es gab keine Beweise im Garten, keine Spuren, dass der Halbtote je da gewesen war. Nicht, dass sie das überrascht hätte.
Jetzt, in der Sonne und an der frischen Luft, konnte sie sich beinahe einreden, dass es nie geschehen war. Dass es eine Art Traum gewesen war. Sie saß am Picknicktisch hinter der Kantine des Hauptquartiers, ihren Hut in den Händen, und versuchte mit reiner Willenskraft, wieder ihr normales Leben zurückzuerlangen.
Aber eine Frage nagte ununterbrochen an ihr. Die Frage nach dem Warum. Warum der Halbtote zu ihrem Haus gekommen war. Ihrem Haus. Hätte er Wright oder Leuski nachgestellt, wäre das irgendwie verständlich gewesen. Die beiden hatten das Ding
Weitere Kostenlose Bücher