Der letzte Walzer in Paris - Ein Fall fuer Kommissar LaBr a
Mitte. Das Mädchen sah blass und mitgenommen aus. Jeder von ihnen hielt eine rote Rose in der Hand.
Vor beinahe einem Jahr hatte man Jennys Mutter in Marseille zu Grabe getragen.
Zum Glück hörte es jetzt auf zu regnen, doch es blies ein kalter Wind. Der Fußweg dauerte mehr als eine Viertelstunde. Über die Avenue du Nord und die Avenue de l’Est gelangte der Trauerzug zum Abschnitt 26. In der Nähe der Grabstätte des Dichters Guy de Maupassant befand sich das Familiengrab der LaBréas. Der Vater hatte dort seine letzte Ruhestätte
gefunden, und seine Frau würde neben ihm bestattet werden.
Pater Rene, ein rundlicher, älterer Herr mit dem Akzent der Provence, hielt eine ebenso schlichte wie bewegende Rede. Als das Schlussgebet gesprochen war, ließen die Männer des Beerdigungsinstituts den Sarg ins Grab hinab. Jetzt war der Moment gekommen, endgültig Abschied zu nehmen. LaBréa trat als Erster zum Grab, streute eine Schaufel Erde auf den Sarg und warf seine Rose obenauf. Er verharrte einen Moment, die Hände verschränkt. Unendliche Traurigkeit erfasste ihn, ein tiefer Schmerz. Als Jenny ans Grab trat, bewahrte sie nur mit Mühe die Fassung. Die Erinnerungen überwältigten sie, und sie begann zu weinen. LaBréa nahm fest ihre Hand und führte sie zur Seite. Nachdem alle Übrigen eine Schaufel Erde auf den Sarg geworfen und LaBréa und seinem Bruder kondoliert hatten, trat plötzlich ein Fremder dazu. LaBréa hatte ihn vorher nicht gesehen, und er fragte sich, woher er auf einmal aufgetaucht war. Der Mann war alt, trug einen dunklen Mantel und einen schwarzen Hut, unter dem seine vollen, weißen Haare hervorlugten. Er kam LaBréa bekannt vor. In der Hand hielt er einen Strauß bunter Rosen. Ohne die anderen zu beachten, nahm er die Schaufel und ließ die Erde langsam auf den Sarg rieseln. Die Blumen warf er in einem Schwung hinterher.
Jetzt beugte sich Céline zu LaBréa und flüsterte ihm zu: »Ich ahne, wer das sein könnte, Maurice.«
LaBréa nickte, denn plötzlich war es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen.
»Ja, ich erkenne ihn«, entgegnete er leise. »Obwohl er auf dem Foto natürlich viel jünger war.«
Der Mann legte die Schaufel beiseite und ging rasch weg. LaBréa eilte ihm nach und hatte ihn nach wenigen Metern eingeholt. Er berührte ihn an der Schulter.
»Pardon, Monsieur, aber ich glaube, ich weiß, wer Sie sind.«
Der Fremde drehte sich um, und LaBréa blickte in ein Paar klare, blassblaue Augen. Das gut geschnittene Gesicht des Mannes strahlte Vitalität und Energie aus, obgleich er sicher schon weit über siebzig Jahre zählte.
»Ich war ein guter Freund der Verstorbenen«, sagte er ausweichend und, wie es schien, ein wenig verlegen.
»Ja.« LaBréa lächelte. »Sie müssen Bernard sein.«
Ein kurzes Erstaunen huschte über die Züge des Mannes, dann erwiderte er LaBréas Lächeln.
»Richtig, Monsieur. Bernard Lefevre. Und Sie sind sicher Maurice, Lucias ältester Sohn.«
»Ja. Und ich würde mich freuen, wenn Sie uns zum Mittagessen ins Restaurant begleiteten.«
Eine halbe Stunde später betrat die Trauergemeinde das Le Breton. Im Stammlokal von Lucia LaBréa hatte der Wirt einen Tisch im Nebenraum reserviert. Er begrüßte
LaBréa und reichte zu dessen Erstaunen auch Bernard Lefevre die Hand.
»Ich erinnere mich zwar nicht an Ihren Namen, Monsieur, aber Sie waren doch einige Male mit Madame LaBréa - Gott hab sie selig - hier bei uns.«
LaBréa tauschte einen schnellen Blick mit seinem Bruder und mit Celine.
Nach dem Essen, bestehend aus einer klaren Consommé, Krebsschwänzen und einer Seezunge, begleitet von einem weißen Bordeaux, verabschiedeten sich die Nachbarn aus der Rue Daguerre und die beiden Frauen aus dem Pflegeheim. Kurz darauf brach Pater Rene auf. Bei den anderen stellte sich ein plötzliches Schweigen ein. Es hatte mit Bernard Lefevre zu tun und der so lange im Verborgenen gebliebenen Geschichte, die ihn mit LaBréas Mutter verband. Während des Leichenschmauses hatte niemand dieses Thema angeschnitten. Jetzt war die Familie unter sich. Damit keine Betretenheit oder Peinlichkeit aufkam, sagte LaBrea rasch: »Woher wussten Sie eigentlich von der Beerdigung, Monsieur?«
»Ich habe die Annonce in der Zeitung gelesen. Und woher wussten Sie von mir?«
Richard erzählte ihm von den Briefen, die sich in Lucias Nachlass befunden hatten.
»Sie hat sie all die Jahre aufbewahrt?« Bernards Stimme klang mit einem Mal leise und brüchig. »Obwohl...« Er
Weitere Kostenlose Bücher