Der letzte Werwolf
komisch – ich mach die Tür auf und das Ding schwebt pfeilgrad auf mich zu. Zugwind. Das Fenster im Hinterzimmer muss offen gewesen sein – trotzdem eigenartig, sah aus wie ein großer weißer Schmetterling. – Schaut nur, die komplizierte Häkelspitze! Und das gestickte Ornament in der Ecke! Silberfäden. Eine Arbeit haben die sich früher gemacht.“ Ihre Finger strichen fast zärtlich über den Stoff. „Uralt, Barock oder Rokoko würd ich sagen, vielleicht sogar Seide, könnte wertvoll sein. Manchmal findet man bei Piecek richtige Schätzchen.“
Ihre überschäumende Begeisterung teilte keiner am Tisch. Dennoch griff Isolde nach der Brille, die sie wie immer an einer Goldkette um den Hals trug, und betrachtete das Tuch eingehend. „Anscheinend wirklich Seide. Hübsch gemacht. Und erstaunlich gut erhalten. Als ich klein war, haben sie mich in der Schule noch mit solchen Handarbeiten gequält. Wie die Pest hab ich das gehasst!“
Phil warf einen flüchtigen Blick auf Valentinas Neuanschaffung, stutzte dann und legte das Besteck aus der Hand. „Darf ich mal?“
Valentina reichte ihm das Tuch. „Aber pass auf, kleiner Bruder!“
Ohne auf ihre Bemerkung einzugehen, nahm Phil es an sich. „Wow! Wahnsinn Dad, schau mal!“ Er deutete auf die Silberstickerei. „Dieses Symbol. Es ist das gleiche wie auf dem Buch, das mir im Archiv vor die Füße geknallt ist. Was für ein irrwitziger Zufall!“
Sein Vater betrachtete das Ornament. „Die Mondlilie, tatsächlich. Aber so ungewöhnlich, wie du denkst, ist das auch wieder nicht. Dieser esoterische Frauenorden, über den wir vorhin gesprochen haben, hat hier in der Gegend gewirkt. Wie ich schon sagte, Margareta Luisa von Treuenstein gehörte auch dazu. Sie war es übrigens auch, die im Park den Diana-Tempel bauen ließ.“
„Ich dachte, der Tempel sei das Grabmal ihrer Tochter Amalia“, wandte seine Frau ein.
„Das stimmt schon, trotzdem ist dieses Mausoleum wie ein kleiner römischer Diana-Tempel gebaut. Ich will nur sagen, dass dieses Symbol“, Herr Holm zeigte auf das Taschentuch, „hier in der Region eine gewisse Rolle gespielt hat. Wer weiß, wie diese Handarbeit zu Piecek gekommen ist.“
Die Großmutter horchte auf. „Ein esoterischer Frauenorden?“
Ihr Sohn nickte. „Ja, das Collegium Dianae. Sie hatten sich der Göttin Diana geweiht. Ich hab vor einiger Zeit eine Abhandlung drüber gelesen. Die Frauen, vor allem Frauen aus dem Adel, sahen sich als Vermittler zwischen den dunklen und hellen Kräften. So ist auch dieses Emblem zu verstehen. Die Lilie, das klassische Symbol für die Unschuld. Und die Halbmonde als Zeichen für die Göttin Diana. – Übrigens beides Attribute, die auch der Heiligen Maria zugeordnet werden.“
„Interessant. Das mit dem Geheimbund wusste ich nicht. Aber irgendwie war mir der Tempel immer unheimlich.“ Isolde schob ihrer Enkelin die Schüssel hin. „Nimm dir!“
„Hmm, Ingwer“, sagte Valentina.
Ihre Großmutter nickte. „Ich hab übrigens eine ordentliche Portion mehr gekocht, den Rest braucht ihr morgen nur in den Mikroherd zu schieben. Zu dumm, dass ausgerechnet an diesem Wochenende mein Klassentreffen stattfindet. Morgen ist Freitag, am Sonntagabend bin ich wieder da. Die zwei Nächte müsst ihr allein zurechtkommen. Fünfzig Jahre Abitur …“ Sie stöhnte. „Du lieber Himmel, was bin ich für eine olle Scharteke …!“
Phil wischte sich den Mund ab. „Mach dir mal keine Sorgen! Ist doch gut, dass wir schon Ferien haben, so können wir Herrn Bozzi morgen früh in aller Ruhe Gassi führen.“
Herr Bozzi, der neben Valentinas Stuhl lag, schnellte auf, als er sein Lieblingswort hörte.
„Nein!“, sagte Phil. „Morgen. Nicht jetzt!“
Aber davon wollte Herr Bozzi nichts hören. Er sprang hoch und drehte sich wie ein Brummkreisel um die eigene Achse.
„Das ist kein Hund, sondern ein Derwisch. Er macht mich noch mal wahnsinnig!“ Isoldes nervöse Blicke folgten ihrem Liebling, der jetzt winselnd zwischen Tür und Esstisch hin- und herrannte. „Ist ja gut!“ Sie sprang auf. „Aber nur ein kurzes Stück! Und ohne Bällchen!“
„Kein Wunder, dass der Hund sich so aufführt, wenn du ihm jedes Mal nachgibst“, sagte Dr. Holm.
Isolde zuckte resigniert mit den Schultern. „Kommt jemand mit?“
Phil schob seinen Teller weg. „Ich.“
Valentina schlang den letzten Bissen hinunter. „Ich auch.“
Ihre Mutter seufzte. „Dann bleibt die Küche wohl an mir hängen, liebe
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