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Der letzte Werwolf

Der letzte Werwolf

Titel: Der letzte Werwolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Endres
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ausgestorben, die Klassenzimmer standen offen, eine Putzkolonne säuberte die Fenster. Der beißende Geruch von Reinigungsmitteln schwängerte die Luft.
    Dorian, der mit ruhigem Interesse durch die Flure schritt, schien zu überlegen, welchem Zweck all diese Räume zu seiner Zeit gedient hatten.
    „Wäre es nicht wunderbar, wenn du nach den Ferien hier deine Ausbildung fortsetzen könntest?“, wandte sich Isolde an ihren Schützling.
    Dorian lächelte. „Madame, mich dünkt, heimzukehren.“
    Vor der hohen weißen Flügeltür, hinter der das Vorspiel stattfinden sollte, drückte Isolde den großen Jungen fahrig an sich und spitzte den Mund. „Toi, toi, toi!“
    Phil hätte nicht sagen können, wie oft er schon in diesem Konzertsaal gewesen war. Alle Festivitäten der Schule fanden hier statt, ebenso die häufigen Orchesterproben, die vor den öffentlichen Auftritten immer eine wahre Last waren. Der uralte Eichenboden knackte unter ihren Füßen. Es roch nach Bohnerwachs und dem Rasierwasser des Professors, der nun mit ausgestreckten Armen auf sie zueilte.
    „Wie schön, Isolde, dich mal wieder hier zu sehen. Du siehst blendend aus!“ Damit schüttelte er ihr die Hand und zog sie zu einem Wangenkuss an sich, den Isolde mit einem geschmeichelten Lächeln erwiderte.
    „Und das ist wohl der Wunderknabe, von dem du mir so vorgeschwärmt hast.“ Er begrüßte Dorian mit einem festen Händedruck, worauf sich dieser tief verbeugte, was dem Professor aber entging, weil er sich schon umgedreht hatte, um Isolde und ihren Enkeln Sitzgelegenheiten zuzuweisen.
    Die drei hatten gerade Platz genommen, als sich die Tür öffnete. Ein Mann und eine Frau kamen herein.
    „Mist“, raunte Valentina. „Ausgerechnet die Becker, die alte Giftschlange!“
    Der Professor winkte die Ankömmlinge zum Flügel an der Stirnseite des Saals, wo Dorian Phils Geige auspackte, das Seidentuch, das Valentina ihm gegeben hatte, bereits auf der Schulter.
    „Darf ich dir Frau Becker vorstellen, sie ist Musiklehrerin hier im Hause und …“, er wies auf einen korpulenten Herrn zu seiner Linken, „das ist Dr. Falk, er lehrt bei uns Komposition. Die beiden sind Mitglieder der Stipendiumkommission.“ Er lächelte seinen Kollegen zu. „Und dieser junge Mann heißt Dorian Wo … Wo …“
    „Wolkonov, verehrter Monsieur, Dorian Alexejewitsch Wolkonov, mit Verlaub.“ Dorian verbeugte sich. „Ihr untertänigster Diener, der in aller Bescheidenheit hofft, dass sein Spiel delektieren werde.“
    Sichtlich verunsichert rückte die Lehrerin mit gespreizten Fingern ihre Brille gerade, während Dr. Falk die überlange, dürftige Haarsträhne glatt strich, mit der er wenig erfolgreich seine Halbglatze kaschierte.
    Einzig Professor Lauterbach schien sich nicht zu wundem, aber es war bekannt, dass ihm so manches entging, betraf es nicht sein einziges Interesse: die Musik.
    Doch geriet Dorians befremdliche Ausdrucksweise auch für die beiden anderen Jurymitglieder sofort in Vergessenheit, als der Junge kurz darauf die Geige ansetzte.
    Er begann mit einigen kleinen Stücken, die er auswendig spielte, einem Menuett, einer Gavotte und einer kurzen Ariette von Parfaict .
    Valentina schloss die Augen und verlor sich ganz in den Klängen. Wenn Phil spielte, hatte sie nie dergleichen empfunden. Einmal strömte die Musik wie duftendes Öl, dann sprang sie wieder fröhlich und unbändig wie die Perlen einer zerrissenen Halskette. Unvergleichlich, inspiriert, göttlich!
    Als er den Geigenbogen senkte, herrschte atemlose Stille. Schließlich erhob sich Professor Lauterbach vom Jurytisch und schritt applaudierend auf seinen Kandidaten zu. „Bravo, welche Verve, welche Leichtigkeit.“ Er klopfte ihm wohlwollend auf die Schulter. „Und welche Noten hast du mitgebracht, damit wir sehen, wie du das Zusammenspiel meisterst?“
    In Absprache mit Isolde hatte sich Dorian für La Follia entschieden, das Stück von Corelli, bei dem sie ihn neulich begleitet hatte. „Es ist ein wunderbares Stück, und du spielt es, dass man förmlich dahinschmilzt“, hatte sie gesagt.
    Und sie hatte ihn gut beraten. Im Duett mit dem Professor entlockte Dorian den Saiten Klänge, die jeden im Saal in die Welt seiner Träume entführten.
    Valentina beobachtete die Lehrerin. Ihre schmalen Lippen zierte ein nie gesehenes weiches Lächeln, das ihr seltsam fremd zu Gesicht stand. Der kleine Kopf mit dem ausgefransten Kurzhaarschnitt wiegte sich im Rhythmus der Melodie. Der Kollege neben ihr

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