Der letzte Werwolf
nicht einfach ein Ausstellungsstück überlassen.
„Wohlan, mein lieber Freund“, meldete sich Dorian zu Wort. „Der Dolch steht mir, dem Erben zu. Man wird mir nicht verweigern, mein Eigentum an mich zu nehmen.“
„Mein Eigentum an mich zu nehmen …“ Phil fuhr sich genervt durch die Haare. Manchmal schien Dorian den Bezug zur Realität zu verlieren. Realität?, dachte er dann. Welche verdammte Realität eigentlich? Er warf den Kopf in den Nacken. „Mann, du gehst also hin und verbeugst dich und sagst: ‚Mit Verlaub, ich bin Dorian, der Enkel von Margareta von Treuenstein, und mal eben aus dem achtzehnten Jahrhundert gesprungen, um mir den Dolch meiner Großmutter zu holen.‘“ Er presste ein kleines Stöhnen durch die Lippen. „Dorian, wir sind im EIN-UND-ZWAN-ZIGSTEN Jahrhundert! Jeder wird dich für durchgeknallt halten.“
„Phil hat recht“, sagte Valentina. „Aber noch wissen wir gar nicht, ob der Dolch überhaupt hier ist. Am Ende …“
„Ruhe bitte!“ Eine Stimme wie eine Posaune unterbrach ihre Unterhaltung. Sie gehörte zu einer kleinen drahtigen Person in einem karierten Rock und klobigen Pumps, die nach unten abrundeten, was oben mit Knotenfrisur, einer Hornbrille und weißer Bluse seinen Anfang nahm.
„Haltet euch die Ohren zu! Snicki höchstpersönlich!“, raunte Valentina. Phil grinste gequält.
Frau Dr. Snick, die Leiterin des Museums, war ihnen wohlbekannt, da das Schulorchester regelmäßig für die musikalische Umrahmung von Museumsveranstaltungen sorgte.
„Meine Damen und Herren!“, begann ihre Führerin. „Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass in den Räumen des Museums weder gegessen noch getrunken werden darf. Fassen Sie bitte nichts an, auch nicht die Tapeten! Setzen Sie sich nicht auf die Polsterstühle und bleiben Sie auf dem roten Teppich, das Parkett ist sehr empfindlich. Und wenn Sie fotografieren wollen, fotografieren Sie unter allen Umständen ohne Blitzlicht!“ Sie holte Luft. „Bleiben Sie immer eng bei mir und sagen Sie, wenn ich lauter sprechen soll.“
Phil verdrehte die Augen. „Gott bewahre!“
Nachdem sie ihre Anweisungen heruntergerattert hatte, führte die kleine Frau ihre Herde durch das barocke Treppenhaus zum ersten Stock in ein geräumiges Durchgangszimmer, das bis zur hohen Stuckdecke mit Jagdgemälden und Trophäen ausgestattet war.
Valentina hielt Phil am Ärmel zurück. „Warte, wir machen das Schlusslicht!“
Dorian war ohnehin stehen geblieben. Schweigend um sich blickend schien er jede Einzelheit in sich aufzusaugen.
„Kommen Sie näher!“ Willig folgten die Leute dem Befehl der durchdringenden Stimme. „Was Sie hier sehen, zeugt von der großen Jagdbegeisterung des Grafen Ferdinand Albert von Treuenstein. Die ausgestopften Tierpräparate bedürfen, wie Sie sich vorstellen können, aufgrund ihres hohen Alters äußerst aufwendiger Erhaltungsbemühungen. Mottenfraß und Milbenbefall, um nur zwei Probleme zu benennen. Doch handelt es sich tatsächlich noch um die Originale, worauf wir sehr stolz sind.“
Dann wies sie auf einige Vitrinen, die den Gang säumten. „Ehe wir weitergehen … Falls Sie sich für Waffen interessieren, dürfen Sie sich auf keinen Fall die Stücke in den Schaukästen entgehen lassen.“ Artig drängten sich die Leute um die Glasschränke. Fotoapparate klickten. Ein Mann in Bermudas fotografierte mit dem Handy einen ausgestopften Eber.
„Dorian?“ Valentina berührte den Jungen, der wie in Bronze gegossen dastand, leise am Ellbogen.
Er fuhr zusammen. „Mir ist“, murmelte er. „Mir ist, als wär ich wieder Kind, Bilder steigen aus der Erinnerung Gruft. Die toten Tiere machten mich stets fürchten. Ich mochte nie die unbelebten Augen, mich dauerte ihr früher Tod.“
Phils Blick strich über die Wände. Er verstand genau, was Dorian als Kind empfunden haben musste. Selbst in ihm lösten die gewaltigen Hirschköpfe, die ihrer Geweihe wegen hatten ihre Leben lassen müssen, Beklommenheit aus. Und ebenso wenig gefielen ihm die ausgestopften Wildschweine und Raubvögel mit ihren ausdruckslosen Glasaugen. Isolde hatte schon recht, es war nicht in Ordnung, dass der Mensch wehrlose Tiere tötete – jedenfalls nicht, um sie auszustopfen. – Ein schönes saftiges Steak allerdings … Sein Gedankengang wurde von der Posaunenstimme unterbrochen, die die Leute in den nächsten Raum dirigierte.
„An die Vitrinen!“, raunte Valentina und setzte sich in Bewegung. Doch ihre Hoffnung wurde
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