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Der letzte Werwolf

Der letzte Werwolf

Titel: Der letzte Werwolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Endres
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ihn scheu. Ohne Zweifel kommunizierte er mit seiner Mutter.
    Unerwartet strömte ein milder Hauch an ihrem Nacken vorbei. Sie drehte sich um, aber da war niemand, und dennoch fühlte sie jetzt klar und deutlich eine dritte Präsenz. Der Blütenduft intensivierte sich und ihr wurde bewusst, dass es Lilien sein mussten. Ihr suchender Blick tastete nach der Ursache, doch außer Klettengestrüpp und Unkraut blühten hier nur Schafgarben und vereinzelte Margeriten.
    Sie war da. Sie konnte sie nicht sehen, aber sie war da. Amalia. Dorians schöne Mutter. Auf unerklärliche Weise empfand Valentina ihre große Sehnsucht, den hübschen Jungen mit dem blonden Zopf in die Arme zu nehmen. Diese schmerzvolle unerfüllte Sehnsucht, die auch ihre eigene Sehnsucht war. Sie spürte große Sorge wie einen alles verschlingenden Schatten. Die Sorge der Mutter, die auch ihre eigene Sorge war. Dann fühlte sie sich mit einem Mal von einer mächtigen Kraft umströmt, einer Kraft, die mit der in ihrem Inneren zusammenfloss. – Unwillkürlich drängte sich ihr ein Wort auf, ein Wort, das eine neue Bedeutung für sie hatte, seit Dorian ihr zum ersten Mal in die Augen gesehen hatte. Das Wort hieß: Liebe.
    Ein Schwarm Zitronenfalter ließ Valentina aus ihrem mystischen Erlebnis hochschrecken. Auch Dorian löste sich aus seiner Erstarrung. In einer verlegenen Geste strich er die Haarsträhne zurück, machte einen Schritt auf sie zu und griff in einer ruhigen Bewegung nach ihren Händen. Wie kalt sie waren! Valentina erschauderte. Mit großem Ernst suchte er ihren Blick.
    „Sie hofft auf Sie und ist Ihnen in höchstem Maße zugetan“, sagte er leise. „So zugetan, wie auch mein Herz dem Ihren ist.“
    Ohne dass er es erwähnen musste, wusste Valentina, dass er von seiner Mutter sprach. Ein Schmetterling ließ sich auf Dorians Schulter nieder, seine zarten Flügel schienen aus Sonne gewebt. Lächelnd drehte der Junge den Kopf.
    „In Russland sagt man, in den Faltern begegnen uns der Ahnen Seelen. Bábotschka , so weiß ich noch vom Vater her, heißt Großmutter im Zarenland, doch ebenso auch Schmetterling.“ Ein zweiter Zitronenfalter umschwirrte sie mit leisem Flügelschlag. „Sie werden da sein“, sagte er versonnen. „So wie die Alte bei der Kirche prophezeite, stehen uns Helfer bei, aus dieser und aus einer andren Welt.“
    „Ich werde ganz bestimmt da sein!“, sagte Valentina bewegt. „Ich bin für dich da!“
    In Dorians Augen schimmerten Tränen. Unerwartet zog er sie an sich. Valentina glaubte für einen Augenblick, mit ihm zu verschmelzen. Sein Herzschlag war ihr Herzschlag, sein Atem ihr Atem. Sie hob den Kopf. Ohne den Blick von ihr abzuwenden, führte er ihren Handrücken in einer langsamen Bewegung zum Mund, zart und innig. Trotz ihrer beunruhigenden Kühle entfachten seine Lippen eine Wallung, als ströme glühende Lava durch ihre Adern. Dann legte er ihre Hand behutsam auf seine Brust und flüsterte ihr ins Ohr: „Die Liebe hemmet nichts, sie kennt nicht Tür noch Riegel. Und dringt durch alles sich.“
    Valentina glaubte zu schweben. Was für wunderbare Worte! Was für ein wunderbarer Moment! Dieser zarte Kuss auf die Hand übertraf alles, was sie von ihrem ersten Kuss erwartet hatte. Er war ein Versprechen, von dem sie wusste, dass er es eines Tages einlösen würde.
    Mit einem Lächeln nahm sie seine Hand und stellte überrascht fest, dass sie überhaupt nicht rot geworden war. Nichts war peinlich. Alles war gut und genau so, wie es sein sollte. Hand in Hand schritten sie die Stufen hinab, gingen über die Wiese, schweigend, erfüllt, glücklich.
    Herr Bozzi kam ihnen sachte mit dem Schwanz wedelnd nach, als wüsste er um die Größe des Moments und wolle ihn nicht stören. Die Zitronenfalter begleiteten sie noch ein Stück, dann verloren sie sich in der Abendsonne. Valentina fühlte sich in einen Panzer von Licht gehüllt. All ihre Angst war wie weggeblasen. Welche dunkle Macht konnte ihnen etwas anhaben?

K APITEL 20
    A ls sie den Hauptweg betraten, wurde Herr Bozzi, der bislang artig neben ihnen hergetrottet war, plötzlich unruhig. Mit gesträubtem Fell schnüffelte er den Boden ab.
    Valentina beobachtete ihn besorgt. „Irgendwas passt ihm nicht!“ Ihre Augen streiften ahnungsvoll über den Grund, als Dorian stehen blieb und in die Hocke ging. Wortlos deutete er auf einen kleinen roten Fleck, der sich kaum sichtbar im Sand abzeichnete.
    Die eisigen Finger des Entsetzens strichen Valentina über den Rücken.

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