Der letzte Winter
wusste jedenfalls, was vor sich ging. Und Peder wusste, was sie tat.«
»Und Madeleine? Was wusste sie?«
»Vielleicht mehr, als man geglaubt hat«, antwortete Lentner.
»Was bedeutet das?«
Lentners Kopf war nach vorn gesunken, als könnte er die Last der Erinnerung nicht länger tragen. Aber seine Stimme klang unverändert kräftig.
»Ich kenne nicht alle Details. Ich musste sie vergessen. Und lügen, selbst wenn ich es nicht als Lüge empfinde. Peder Holst hat gedroht, mich umzubringen, wenn ich die Wahrheit erzähle. Das, was er mit mir gemacht hat, aber auch das, was zwischen Herman und Annica war. Gott weiß, ob er sich nicht auch an Herman vergriffen hat. Und seine Frau wusste es. Mit beiden stimmte etwas nicht. Sie musste einen Preis zahlen, sie hatte ein eigenes Geheimnis, das sie bewahren wollte. Oder wie zum Teufel man das ausdrücken soll. Ich weiß nicht, was zwischen ihr und Herman passiert ist. Aber Herman musste einen noch höheren Preis zahlen.«
Preis. Winter sah den Pokal vor sich, Hermans Preis. Ein wertloser Preis. Er hatte versucht, die Erinnerung an ein Glückserlebnis abzukratzen.
Lentner schauderte im Wind, der jetzt richtig kalt geworden war. Er ließ sich jäh auf einen Stuhl fallen. Im Lampenlicht sah er plötzlich aus wie der Junge, der er damals gewesen war.
Er sprach von Lügen. Annica und Peder Holst hatten bis zuletzt an ihrer Lebenslüge festgehalten.
»Wir wurden beide missbraucht«, sagte Lentner. »Sie haben über uns verfügt. Ich weiß nicht, ob sie Madeleine hinters Licht geführt haben. Oder ob sie Bescheid wusste. Uns beide wollten sie jedenfalls ausnutzen. Sie wagten nicht mehr, so zu tun, als ob nichts wäre. Deshalb wollten sie Herman die ganze Schuld zuschieben an dem, was mir passiert war. Das war ein Fehler.«
Er hat deine Frau umgebracht, dachte Winter. Das war auch ein Fehler. Hier stimmte vieles nicht. Hier stimmte gar nichts.
»Warum haben Sie nicht eher von Herman erzählt?«, fragte er.
»War noch jemand anwesend? An dem Tag in Holsts Haus?«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich meine gar nichts. Ich frage, ob Sie allein am Swimmingpool waren.«
»Ich … war wohl allein.«
»Ich wusste es nicht«, antwortete Lentner. »Ich habe den Zusammenhang nicht begriffen.«
»Ich glaube aber doch.«
»Meinen Sie, ich wollte die Rache selbst in die Hand nehmen?«, fragte Lentner.
Nein. Winter sah noch immer das Gesicht des Jungen in dem Gesicht des Mannes. Nein, Lentner hatte sich nicht von Rache antreiben lassen, als er beschloss, hierherzukommen. Ihn hatten Schuldgefühle getrieben, die stärker waren als Rachsucht. Schuldgefühle verschwanden nie.
»Kommen Sie mit?« Winter wies mit dem Kopf auf die Berge.
Lentner antwortete nicht. Winter drehte sich um und ging.
»Ich komme mit«, hörte er Lentners Stimme hinter sich. »Soll ich ein Taxi rufen?«
»Ich habe ein Auto unten am Ufer«, sagte Winter.
49
S chweigend fuhren sie durch Marbella.
Die Uferstraße nach Puerto Banús war gesäumt von Hotels und Palmen.
Bei dem neuen Verkehrskreisel vor Corte Inglés bog Winter ab. Jetzt ging es bergauf.
»Haben Sie die Adresse?«, fragte Lentner plötzlich.
»Ja.«
Winter fuhr um den Plaza Espanola herum.
»Erinnern Sie sich, wo es war?«
»Nein.« Lentner sah hinaus. Die Welt vor dem Autofenster war weiß und schwarz. »Ich bin nie wieder hier gewesen.«
Winter fuhr die Avenida de Prado hinauf. Der Golfplatz lag schräg links von ihnen, Las Brisas. Er sah Lichter, die wie Boote auf Wasser trieben. Vielleicht spielten einige Leute Golf mit Stirnleuchten. Er bog nach links ab, in eine der Querstraßen, die nach europäischen Städten benannt waren. Vor dem Haus hielt er an. Die Autoscheinwerfer beleuchteten das Gras bis zum Green. Ein roter Wimpel bewegte sich sachte im Wind.
Lentner schaute zum Haus. Alle Fenster waren dunkel. Es war ein zweistöckiges Haus mit viel Weiß. Irgendwo zwischen den Palmen richteten Spotlights ihr Licht auf die Fassade. Dahinter stieg ein blauer Schein auf.
»Jesus, ich geh da nicht rein«, sagte Lentner.
Winter drehte sich um.
»Möchten Sie mir noch etwas erzählen?«
Lentner schüttelte den Kopf.
»Warum ist er hierher zurückgekehrt?«, fragte Winter.
»Sie wissen nicht, ob es Herman ist. Sie wissen nicht, ob er hier ist. Sie wissen nicht einmal, ob überhaupt jemand in dem Haus ist. Und wenn, dann könnte es ein anderer sein.«
»Wer?«
Lentner antwortete nicht.
»Peder Holst?«
Lentner lachte auf. Es klang
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