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Der Liebe eine Stimme geben

Der Liebe eine Stimme geben

Titel: Der Liebe eine Stimme geben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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sitzen. Sie ignorierte sich selbst und saß da, still, unauffällig, unsichtbar.
    Und dann, eines Tages, geschah es. Er sah genau ins Objektiv. Er war vermutlich durstig, sah zum Kühlschrank, wollte Saft. Vermutlich war es purer Zufall, aber sie drückte auf den Auslöser, bevor sein Blick weghuschte. Sie sah auf das LCD -Display, und da waren sie. Seine Augen! Weit geöffnete Fenster zu einem strahlend klaren Tag. Keine entrückten oder wandernden Augen. Tiefe, dunkle, schokoladenbraune Augen, die ihrem kleinen Jungen gehörten, die seine Mutter anblickten. Die sie sahen.
    Jetzt sitzt sie in ihrem Wohnzimmersessel, die Post in ihrem Schoß, und verliert sich in seinen Augen, während sie sich die Tränen aus ihren eigenen wischt, froh über die Möglichkeit, sie anzuschauen und echte Bedeutung zu sehen, auch wenn sie nicht versteht, was für eine Bedeutung das ist, auch wenn es nur ein einziger Moment in fast neun langen Jahren war, und auch wenn sie sie immer nur so gesehen hat, durch ihr Nikon-Objektiv und dann auf zweidimensionalem Papier. Sie ist froh, dass sie das hat.
    Sie wischt sich mit dem einen Zipfel der Decke noch einmal die Augen und wendet ihre Aufmerksamkeit dann der letzten Sendung zu, einem braunen Umschlag der Kanzlei Kaufman & Renkowitz. Olivia zieht den Stapel Unterlagen aus dem Umschlag und liest die Überschrift auf der ersten Seite.
    Trennungsvereinbarung für David und Olivia Donatelli
    Sie schließt die Augen und lauscht auf den Wind und den Regen, der gegen die Scheiben schlägt, aufs Dach trommelt, rings um sie wütet. Sie wickelt ihre Füße in die Decke und hält die drei Steine fest, die noch immer in ihrer Hand liegen. Wie alles andere kann auch dieser Sturm nicht ewig dauern.

DREI
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    Von ihrer Seite des Betts abgewandt, die dicke Daunendecke bis zum Kinn gezogen, schläft Jimmy noch tief und fest.
    »Jimmy«, sagt Beth laut, fast brüllend, womit sie sogar sich selbst erschreckt.
    Er schnellt hoch. »Hä? Was ist denn?«
    Jimmy fällt es nicht leicht, aufzuwachen, das hat es noch nie getan. Seine Gedanken sind im ersten Moment völlig verworren, taumeln durch seinen Kopf und prallen gegen die Wände seines Schädels, als hätte er eben sechs Bier gekippt. In den ersten paar Sekunden nach dem Aufwachen könnte er das Alphabet oder die vollständigen Namen seiner drei Töchter nicht aufsagen. In diesem Augenblick weiß er vielleicht nicht einmal, dass er drei Töchter hat. Sie zögert, gibt ihm eine Minute, damit sich der Nebel zwischen seinen Ohren lichten kann. Oder vielleicht zögert sie auch, weil sie sich selbst noch eine Minute länger geben will, in der sie nicht tun, was sie zu tun im Begriff sind.
    »Was ist?« Er reibt sich die Augen und die Nase.
    »Was ist das?« Sie wirft mit der Karte und dem Umschlag nach ihm, zielt auf seinen Kopf. Aber sie sind wie zwei schlecht konstruierte Papierflieger und flattern schlaff in seinen Schoß, anstatt ihn ins Gesicht zu treffen. Er nimmt die Karte in die Hand.
    »Ich habe doch nicht Geburtstag.« Er reibt sich noch immer die Augen.
    »Mach sie auf.« Sie bebt vor Anspannung, während er es tut.
    »Ich verstehe nicht.«
    »Stell dich nicht dumm. Wer hat das geschickt?«
    »Augenblick, ich brauche meine Brille.«
    Jetzt ist er also dumm und blind. Was als Nächstes? Taub? Sosehr ein Teil von ihr seine Antwort nicht hören will, kann ein anderer Teil nicht widerstehen und nötigt sie zu dem, was unvermeidlich scheint.
    Jimmy greift nach seiner Brille auf dem Nachttisch, setzt sie auf und liest sich die Karte noch einmal durch. Er klappt sie auf und zu und wieder auf, studiert sie, als wäre sie ein Kreuzworträtsel oder eines von Sophies Algebraproblemen, als wäre es irgendeine Art Test.
    Es ist ein Test, Jimmy. Es ist ein Test deiner Unbescholtenheit. Es ist ein Test deines Charakters .
    Sie beobachtet sein Gesicht, während er konzentriert auf dieses völlig unergründliche Rätsel starrt und sich weigert, zu ihr aufzusehen. Er spielt auf Zeit.
    »Das ist nicht die Steuernummer, Jimmy. Wer hat das geschickt?«
    »Ich habe keine Ahnung.«
    Jetzt sieht er sie an. Sie halten beide inne, starren sich in die Augen, ohne mit der Wimper zu zucken, ohne sich zu bewegen, und niemand spricht ein Wort. Ein Showdown.
    Jimmy beendet ihn, indem er aus dem Bett steigt und die Karte und den Briefumschlag in den Papierkorb wirft. Dann geht er an ihr vorbei und den Flur hinunter. Sie hört, wie die Badezimmertür zugeht. Offenbar hat er alles

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