Der Liebeswunsch
alltäglichen Dinge. Immer hatte er eingekauft, wenn er kam. Und manchmal vertrieb er mich aus der Küche, weil er
mich mit einem Gericht aus seiner Junggesellenwirtschaft überraschen wollte. Alle seine Gesten sagten mir, ich solle mich
ihm anvertrauen und von ihm verwöhnen lassen. Ich war mir nicht immer im klaren darüber, ob ich das mochte. Er wurde mir nicht
wirklich vertraut, doch ich gewöhnte mich an ihn. Ohne daß mich mein schlechtes Gewissen plagte, lag ich lange im Liegestuhl auf der Terrasse
und entspannte mich. Ich sagte mir, daß ich diese Pause brauchte. Und je mehr ich einwilligte in diesen Zustand, um so öfter
begann ich zu denken, daß neben mir ein Mann aufgetaucht sei, der mir die Tür zum Leben offen hielt.
An ihre Mutter schrieb sie:
»Liebe Mama, ich habe einen sehr netten, gebildeten Herren kennengelernt. Er ist fünfzehn Jahre älter als ich und Vorsitzender
Richter am Landgericht. Wir sehen uns mehrmals in der Woche, und er scheint sich ernsthaft für mich zu interessieren.«
Die Mutter antwortete noch am selben Tag:
»Liebste Anja, Dein heutiger Brief war eine freudige Überraschung. Ich wünsche Dir sehr, daß Deine neue Bekanntschaft Zukunft
hat. Du hast es wirklich verdient, einen liebenswürdigen und kultivierten Mann zu finden. Ich will den Dingen nicht vorgreifen.
Aber wenn es zwischen Euch ernst wird, dann stelle mir Deinen Bekannten bitte bald vor. Ach, ich bin eine neugierige, alte
Frau, und ich sollte mich mehr zurückhalten. Du mußt ja selbst herausfinden, was Du willst, und Du weißt, daß ich Dir dazu
Glück wünsche. Trotzdem war es lieb, daß Du mich ein wenig eingeweiht hast. Meine guten Gedanken begleiten Dich.«
Sie las diesen Brief, der sie trotz aller Formeln der Zurückhaltung unüberhörbar drängte, mit wachsender Beklommenheit. Jetzt
hatte sie schon Erwartungen geweckt, ohne zu wissen, was sie wirklich wollte. War das für sie nicht voraussehbar gewesen,
oder hatte sie auf diese Weise über ihreeigenen Zweifel hinwegkommen wollen? Sie konnte sich das Leben mit diesem Mann nicht vorstellen. Es war, als nehme sie eine
Schuld auf sich, die sie nicht kannte.
Schuld – erinnerte sie sich später. Ich dachte wirklich, ich nähme eine Schuld auf mich, für die ich einmal zu büßen hätte.
Aber daran war ich gewöhnt. Und was auch immer es bedeutete, ich mußte es in Kauf nehmen. Und so sagte ich einfach ja, als
er mich fragte. Ich sagte ja, um den Augenblick zu beenden, in dem wir uns gegenüberstanden, er mit beschwörend erhobenen
Händen, die meine Antwort hinauszuschieben versuchten: »Antworten Sie nicht jetzt. Antworten Sie morgen oder übermorgen oder
nächste Woche!« Aber ich sagte, ich wisse meine Antwort. Ich hatte sie gefunden, als ich begriff, daß ich mehr davor zurückschreckte,
»nein« zu sagen und damit alles zu beenden. Nein – das war nur ein Loch, eine Leere, in der alles verschwand. Nein – das war
die Angst. Die größere Angst.
»Können Sie sich vorstellen, meine Frau zu werden?« fragte er. Und ich sagte: »Ja.«
An ihre Mutter schrieb sie: »Es ist soweit! Er hat mich gefragt, ob ich seine Frau werden will, und ich habe ja gesagt. Wir
heiraten schon im kommenden Monat, gehen anschließend auf Hochzeitsreise. Das schwarze Kleid, das Du mir geschickt hast, werde
ich nun nicht beim Examen tragen, sondern auf dem Standesamt. Ich hoffe, Du freust Dich. Leonhard ist ein guter, freundlicher
Mensch. Du wirst ihn sicher mögen.«
Von nun an hatte sie es eilig und dachte an nichts anderes mehr. Sie las die Wohnungsangebote, blätterte in Hochglanzzeitschriften
über moderne Wohnungs- und Gartengestaltung, die sie im Bücherschrank von Paul und Marlene stapelweise fand. Neugierig stöberte sie im Haus herum, blickte in
Schubladen und Schränke.
Ein altes, sorgfältig beschriftetes Fotoalbum geriet ihr in die Hände. Es zeigte Paul und Marlene während ihrer ersten gemeinsamen
Reise. Marlene war etwa in ihrem Alter, eine junge Ärztin, die mit Paul, ihrem Freund und Kollegen, in Urlaub fuhr. Damals
hatte sie schon kurzgeschnittene Haare gehabt, war aber etwas schlanker gewesen. Paul, einige Jahre älter als sie, wirkte
auf den Fotos wie ein durchtrainierter Athlet. Fast immer trug er Shorts. Sein Oberkörper war nackt, oder sein Hemd war weit
aufgeknöpft. Einmal, am Strand, saß Marlene lachend auf seinen Schultern. Auf den folgenden Seiten tauchte auch Leonhard auf
den
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