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Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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Bildern auf. Daneben stand: »Überraschender Besuch von Leonhard. Aussprache und freundschaftliche gemeinsame Tage.« Auf
     dem letzten Foto hatte sich Marlene bei den Männern eingehängt. Leonhards Gesicht war verschattet durch einen breitkrempigen
     Sonnenhut. Er stand da wie eingepflockt. Paul dagegen in Shorts, Sandalen und gestreiftem Polohemd, lächelte, und das Lächeln
     schien sich in der Lockerheit seiner Haltung fortzusetzen. Vielleicht gestört durch Leonhards Hutkrempe, neigte Marlene ihren
     Kopf, ebenfalls in die Kamera lächelnd, Paul zu, hielt aber beide Männer fest an sich gezogen, als gehörten sie ihr. Sie sah
     beneidenswert vital und glücklich aus, eine große kräftige Frau in einem blau-grün gemusterten Badeanzug mit einer wunderbar
     ausgewogenen Figur, die voller Antrieb und Bewegung war.
    Lange blickte sie auf das Bild dieser drei Menschen, die zusammen etwas erlebt hatten, von dem sie ausgeschlossenwar. Was war damals geschehen? Hatten die Männer um Marlene rivalisiert? War Leonhard der Verlierer gewesen? Hatte Marlene
     ihn zurückgewiesen oder verlassen? Verwirrt spürte sie, wie ihr das Blut zu Kopf stieg. Sie schämte sich seinetwegen. Ja,
     er hatte sich vor den beiden lächerlich gemacht und war ihnen nachgereist. Und sie hatten ihn gemeinsam beschwichtigt und
     getröstet und ihn zu ihrem freundlich geduldeten Anhängsel gemacht. Bis heute war er das geblieben: das Anhängsel dieses Paares,
     ein langsam alt werdender Junggeselle.
    Sie stand auf und trug das Album an seinen Platz zurück. Ich hätte es nicht anschauen dürfen, dachte sie. Sie wollte es auf
     jeden Fall vergessen.
    Am Abend sagte sie ihm, sie wolle sich gerne den nächsten Prozeß ansehen, bei dem er der Vorsitzende war. Gerne, sagte er.
     Er war sehr erfreut. Es handelte sich um den Prozeß gegen den Mann, der versucht hatte, ein Mietshaus in die Luft zu sprengen,
     während alle Bewohner, auch seine Frau und seine zwei Kinder, noch schliefen. Die Verhandlung begann in der kommenden Woche.
     
    Ein Wachtmeister hatte sie, zusammen mit einer kleinen Gruppe anderer Leute, über eine Nebentreppe in den großen Schwurgerichtssaal
     gebracht. Dort setzte sie sich in die zweite Reihe und sah zu dem erhöhten Richtertisch hinüber, auf dem ein Gerichtsdiener
     die Prozeßakten in gleichen Stapeln vor den Richterplätzen bereitlegte. Es kam ihr so vor, als sei der Bühnenvorhang zu früh
     hochgegangen und sie sehe den letzten Vorbereitungen des Requisiteurs zu.
    Vielleicht war es auch schon der Beginn des Dramas. Dort auf der Bühne wurde schon gespielt. Links wurde jetzt durcheine Seitentür der Angeklagte hereingeführt, ein magerer, blasser Mann in Handschellen, der zwischen zwei Wachtmeistern hinter
     einer Barriere Platz nahm. Er ließ seinen Blick durch den Saal wandern, schaute dann mit gesenktem Kopf vor sich hin und regte
     sich erst wieder, als der Verteidiger in der Bank vor der Barriere erschien, ihn begrüßte und einige Worte mit ihm sprach.
     Der Verteidiger schob den Ärmel seiner Robe zurück und blickte auf seine Uhr, während auf der gegenüberliegenden Saalseite
     der Staatsanwalt und die beiden Sachverständigen erschienen. Man grüßte einander, der Verteidiger lebhafter als der Staatsanwalt,
     die Sachverständigen tauschten eine Bemerkung aus. Der Verteidiger drehte sich noch einmal dem Angeklagten zu, der sich beflissen
     vorbeugte und zweimal nickte. Die beiden Wachtmeister neben dem Angeklagten hatten ihre Mützen abgenommen und verharrten zusammen
     mit ihm in standbildhafter Reglosigkeit. Das Schauspiel kann beginnen, dachte sie. Es lief so ab, wie Leonhard es ihr erklärt
     hatte. Die Akteure hatten ihre Positionen eingenommen, doch der Text des Dramas ruhte noch verborgen in den Aktenstößen auf
     dem Richtertisch.
    Die Türen des Saales waren inzwischen geschlossen worden, und das Geräusch der Stimmen hatte sich gedämpft. Noch immer geschah
     nichts. Das Gericht ließ auf sich warten, doch seine Autorität war schon anwesend in den fünf exakt aufgeschichteten Aktenstapeln,
     die ihr bedrohlich erschienen wie das geheime Schicksalswissen einer übergeordneten Macht. Über der Tür an der Kopfseite des
     Saales leuchtete jetzt eine rote Lampe auf, das Zeichen, daß das Gericht gleich erscheinen würde.
    »Bitte erheben Sie sich!« rief ein Wachtmeister, der am seitlichen Saaleingang stand, und erschrocken, als sei vor allem sie gemeint, stand sie wie alle anderen auf. Es gab ein

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