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Der Lilienring

Titel: Der Lilienring Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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aber übersah es geflissentlich und meinte: »Wohingegen Rosemarie ein verschlossenes, schüchternes Mädchen war und vermutlich mehr nach ihrem Vater kommt. Andererseits, wenn ihre Mutter sie heute erleben würde...«
    »Ich halte Rosemarie für eine sehr angenehme junge Frau.«
    »Ich auch, Monsieur Faucon. Sie ist meine beste Freundin.« Und offen lächelnd setzte sie hinzu: »Aber dennoch in manchen Dingen außerordentlich verschwiegen.«
    Mit etwas leichterem Herzen kehrte Marie-Anna in das Haus mit der ungemütlichen Atmosphäre zurück
und verbrachte den Rest des Nachmittags damit, ein Brieflein an Rosemarie zu schreiben, in dem sie einige Aspekte aus ihrer Begegnung mit Faucon schilderte. Das Papier schob sie unter Rosemaries Tür, während diese unten an dem Essen der Familie teilnahm.
    Auch wenn sie in einsamer Majestät in ihrem Zimmer speisen musste, sorgte doch Mathilda dafür, dass sie stets die besten Stücke und auch immer reichlich von allem bekam, was in der Küche produziert wurde. Die Haushälterin hatte ihre Sympathien sehr deutlich gemacht, und Marie-Anna war froh darum. Es hätte genauso gut anders sein können.
     
    Der Freitag verging, ohne dass der Kommerzialrat heimkehrte. Er traf erst in den späten Nachmittagsstunden des Samstags ein. Marie-Anna hörte seine Schritte auf dem Gang. Sie hätte gerne die Tür geöffnet, um ihn zu begrüßen, aber Edwin, der Kammerdiener war bei ihm und redete unablässig auf ihn ein. Dann schlug seine Zimmertür zu.
    Da sie nun nicht mehr am Familientisch aß, bestand im Grunde keine Notwendigkeit für Marie-Anna, sich für das Essen umzukleiden, doch mit einem kleinen Hoffnungsfunken im Herzen wählte sie nun eines der fließenden Musselinkleider aus, die seit den Ferien ungetragen im Schrank hingen. Sie legte ein hellblaues an, eines, in dem sie sich besonders attraktiv fühlte. Sie brachte es sogar alleine fertig, ihre Haare zu einem Chignon aufzustecken, aus dem eine lange Locke über ihre Schulter fiel. Noch war ihre Haut gebräunt, sogar das Dekolleté hatte sommerliche Farbe angenommen in den weiten Blusen, die sie auf dem Gut getragen hatte. Im Spiegel fand sie selbst diese unmondäne Zusammenstellung von dunkler Haut und hellem Stoff recht interessant. Aber sie war ja nur ein unkultivierter Trampel …

    Als sie sich zulächelte, blitzten ihre Augen blau auf.
     
    In der Stille des Hauses hörte sie endlich, wie Valerian Raabe seine Zimmer verließ, um nach unten zu gehen. Dann klappten auch die Türen von Rosemaries und Graciellas Zimmer, und sie vernahm die Stimmen der beiden. Kaum fünf Minuten später klopfte es leise an ihrer eigenen Zimmertür. Sie öffnete, und Graciella, den Finger auf den Lippen, sandte einen warnenden Blick zu den Gemächern von Madame.
    »Papa will dich sehen. Komm.«
    Marie-Anna lief leichtfüßig hinter dem Mädchen her, diese hielt vor dem Eingang zum Salon an.
    »Du wirst umfallen vor Staunen!«
    »Weshalb?«
    »Wirst gleich sehen!«
    »Ist etwas passiert?«
    »O ja!«
    Graciellas Augen sprühten Funken.
    Dann traten sie ein, und ein dunkelhaariger Mann löste sich vom Kamin, um ihr entgegenzugehen. Marie-Anna fiel zwar nicht um, wie Graciella es angekündigt hatte, aber sie war nicht weit davon entfernt. Valerian Raabe trug seine übliche Gesellschaftskleidung, aber seine Haare ringelten sich in kurzen, grau-schwarzen Locken um seinen Kopf, und der Bart war ebenso kurz gestutzt worden. Es sah aus, als sei der Römer aus der Grabkammer wieder lebendig geworden.
    »M… Monsieur …?«
    »Mademoiselle, der zipfelige, alttestamentarische Prophetenbart ist gefallen. Entspricht das Resultat Ihren Vorstellungen?«
    Marie-Anna schluckte trocken, bevor sie antworten konnte.

    Graciella übernahm es für sie.
    »Fesch, nicht wahr?«
    »Monsieur, Sie sehen hinreißend aus.«
    »Ja, Onkel Valerian, einfach phantastisch. Besser als jeder junger Mann unserer Bekanntschaft!«
    Er lachte auf und reichte Marie-Anna die Hand.
    »Da haben Sie eine gute Idee gehabt. Es scheint, ich werde demnächst zum aufgehenden Stern aller Salons avancieren, so wie man mich hier mit Komplimenten überhäuft.«
    Die Türflügel öffneten sich erneut, und Madame, mit Berlinde und dem Professor im Gefolge, rauschte herein. Madame blieb plötzlich wie versteinert stehen.
    »Mein Gott, Raabe, was hat man mit Ihnen gemacht?«
    »Barbiert, Madame. Und wie ich hörte, findet es Gefallen.«
    »Unmöglich! Wo bleibt Ihre Würde? Wo die Eleganz, die

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