Der Lilienring
bezahlen? Graciella kam wohl nicht in Frage, wenn es sich um Entwendungen handelte, mit denen Saboteure bezahlt wurden. Dazu war sie zu jung und zu unbedarft. Blieb noch Berlinde. Sie war nicht umgänglich, sie hegte Groll gegen jedermann, sie hatte etwas Verschlagenes an sich. Aber Marie-Anna hielt sie gleichzeitig für ziemlich dumm. Es könnte natürlich auch Valerian Raabe selbst gewesen sein. Aber hätte er den Ring dann nicht besser erst im letzten Moment an sich nehmen sollen? Er war der Letzte, der das Grab noch einmal betreten hatte, bevor es versiegelt wurde. Alles das passte nicht zusammen, und daher bezweifelte Marie-Anna nach reiflicher Überlegung, dass es sich hier um einen Diebstahl handelte, der in die Serie der vorhergehenden fiel. Hier mochte Habsucht im Spiel sein, und damit waren wieder alle Beteiligten, aber dazu der Baumeister und die Arbeiter im Spiel. Sie beschloss, bei Gelegenheit mit dem Kommerzialrat unter vier Augen darüber zu sprechen.
Er war noch nicht von seiner Reise zurück, als sie am
Nachmittag im Haus eintrafen. Mathilda erwähnte, er würde erst am Ende der Woche zurückerwartet.
Marie-Anna hatte kaum ihre Tasche ausgepackt und den Reisestaub abgewaschen, als Madames Zofe an ihrer Tür klopfte und sie zu der Dame des Hauses befahl. Mit einem freundlichen Ausdruck betrat sie die üppig ausgestatteten Räume und wollte eine herzliche Begrü ßung äußern, als sie der missbilligenden Miene der fülligen Frau gewahr wurde. Ursula Raabe lehnte in den schwellenden Polstern eines Fauteuil, neben sich die unvermeidliche Schale mit Pralinés und gezuckerten Früchten. Einen Platz bot sie Marie-Anna nicht an, sondern schoss ihren ersten Pfeil direkt auf die Eintretende ab.
»Man hat mir berichtet, dass Sie sich in höchst unbotmäßiger Weise benommen haben, Mamsell.«
»Bitte?«
»Bitte? Bitte?«, äffte sie Marie-Annas erstaunten Ton nach. »Sie wissen ganz genau, was ich meine. Schauen Sie sich doch nur mal an. Verwildert ist überhaupt kein Ausdruck. Und meine Tochter sieht ebenfalls braun gebrannt wie ein Zigeunerkind aus. Sie benimmt sich noch dazu so. Niemals habe ich derart aufsässige Bemerkungen von diesem Mädchen gehört. Der Umgang mit Ihnen, Mamsell, scheint die schlimmsten Seiten in ihr zu wecken.«
»Was, Madame, werfen Sie mir eigentlich vor? Wir standen die gesamte Zeit unter Aufsicht der Eltern des Herrn Kommerzialrates, und er selbst war einen Großteil der Zeit zugegen. Hat er sich über mich beklagt? Dann wäre es doch wohl passender gewesen, er hätte mir gleich dort einen Wink gegeben.«
»Auf den Sie ja wohl keinen Deut gegeben hätten, Mamsell!«
»Ich bitte Sie, was unterstellen Sie mir?«
»In höchstem Maße unkultiviertes Benehmen, rebellisches Verhalten und Hochstapelei, Mamsell de Kerjean.«
»Mag schon sein, dass wir auf dem Lande ein etwas weniger geziertes Benehmen an den Tag gelegt haben als in feiner städtischer Gesellschaft, Madame. Aber unkultiviert war es sicher nicht.«
»Sie sind im Herrensattel ausgeritten und haben meine Tochter unglaublicherweise dazu verführt. In Hosen, Mamsell. Das ist anstößig und geschmacklos.«
»Es geschah nicht ohne Billigung!«
»Mein Gatte, Mamsell, neigt leider gelegentlich genauso zu Geschmacklosigkeiten. Sie werden einer Mutter schon noch das Recht einräumen, über die Erziehung ihres Kindes selbst zu bestimmen. Mit einer gewissen Feinfühligkeit, die Ihnen bestimmt vollständig fremd ist, hätten Sie einen derartigen Verstoß gegen die guten Sitten wohl vermieden.«
Marie-Anna zuckte mit den Schultern. Auf solche Anschuldigungen gab es wenig zu erwidern.
»Sie schweigen, Mamsell?«
»Was soll ich sagen, Madame?«
»Ich erwarte Ihre Entschuldigung!«
»Dann entschuldige ich mich hiermit.«
Ursula Raabe sah sie mit verächtlichem Hochmut an. Es war nicht die Form der Entschuldigung, die sie hören wollte, der Gleichmut in Marie-Annas Stimme war zu deutlich.
»Sie haben sich weiterhin auf geradezu ungehörige Weise gegen Frau von Spangenberg benommen.«
»Ich entschuldige mich auch dafür.«
»Sie glauben wohl, so einfach geht das, was, Mamsell? Hochnäsig und arrogant hier herumzustehen und mit gelangweilter Miene Entschuldigungen zu äußern. Sie aufsässiges, eingebildetes Frauenzimmer! Mir sind
Sachen zu Ohren gekommen, die mehr als skandalös sind. Wenn ich nur ein Wort davon dem Kommerzialrat gegenüber erwähne, Mamsell, dann haben Sie die längste Zeit unter diesem Dach
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