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Der Lilienring

Titel: Der Lilienring Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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Geschichte von Kronos und Uranus.«
    Valerian Raabe sandte einen sehr strengen Blick an Rosemarie, die einen leichten Erstickungsanfall hinter ihrer Serviette zu bekämpfen suchte.
    Mit trockener Stimme erzählte Professor Klein die Sage.
    »Uranus, der Himmel, war, wie Sie alle wissen, in der griechischen Mythologie der Urvater, der aus dem Chaos entstand. Er vermählte sich mit Gaia, der Erde, und zeugte mit ihr zahllose Kinder. Der jüngste Sohn war Kronos, und ihn stiftete Gaia an, sie von den Aufmerksamkeiten ihres Gatten zu erlösen. So legte sich Kronos mit einer Sichel auf die Lauer, und als sich Uranus dem Lager der Gaia näherte, entmannte er ihn. Das Geschlechtsteil fiel ins Meer, und aus dem austretenden Schaum entstand Aphrodite, die daher auch den Namen ›Schaumgeborene‹ trägt.«
    »Humbert!«
    Madame und Berlinde zischten den Professor empört an.
    »Bitte, meine Damen, so lautet die Sage.«
    »Ersparen Sie uns weitere unfeine Details. Es sitzt ein junges, unschuldiges Mädchen am Tisch!«

    »Fahr ruhig fort, Humbert. Die Mythologie spielt gelegentlich mit drastischen Mitteln, aber auch unsere Märchen, die wir den Kindern erzählen, machen nicht Halt vor den Grausamkeiten des Lebens.«
    »Humbert, unterlassen Sie das!«
    »Wie Sie wünschen, Madame.«
    »Dann führe ich zu Ende, was er begonnen hat.«
    »Graciella, verlasse augenblicklich den Raum«, befahl Ursula Raabe.
    »Bleib, Tochter, und höre zu. Uranus’ Blut zeugte die Titanen und Töchter der Nacht, die Erinnyen, aber auch die Nymphen der Eschen. Kronos hingegen nahm seine Schwester Rhea zur Frau und zeugte die Götter und Göttinnen. Doch es lag ein Fluch auf ihm, denn es hieß, eines seiner Kinder würde ihn einst überwältigen. Und so verschlang er sie jeweils nach ihrer Geburt. Nur einen Sohn konnte Rhea retten, Zeus, von den Römern Jupiter genannt. Er bekämpfte seinen Vater, brachte ihn dazu, seine Geschwister wieder auszuspeien, und besiegte ihn schließlich in einem heroischen Kampf der Titanen. Doch er tötete seinen Vater nicht, sondern verbannte ihn und begnadigte ihn später. So wurde er der Herrscher auf den Inseln der Seligen, und seine Regierungszeit nannte man das Goldene Zeitalter. Die Römer nannten Kronos später Saturn. Die Sichel aber behielt er auch bei ihnen in der Hand.«
    Marie-Anna fasste zusammen, als er geendet hatte: »So ist Jupiter ein Sohn Saturns und Saturn der Sohn des Uranus. Jetzt verstehe ich die Logik der Namensgebung, Monsieur. Danke für Ihre Erläuterung.«
    Madame hob die Tafel wortlos auf und zog sich in den Salon zurück.
    »Kommt mit in die Bibliothek, ich gebe euch den Artikel«, wandte sich Valerian Raabe an die drei jungen Frauen. Sie folgten ihm bereitwillig.

    »Die Sage ist wirklich ziemlich drastisch«, flüsterte Rosemarie Marie-Anna zu.
    »Natürlich. Aber du kanntest sie und wusstest, was kam. Ich sah, wie du dein Kichern unterdrücken musstest.«
    »Nun ja, man kommt nicht umhin, solche Dinge zu wissen, wenn man sich mit der Antike befasst. Mein Vater hat mich nie gehindert, die alten Mythen zu lesen. Er hat sie mir allerdings nicht erklärt. Das hast du erst getan. Bin ich sehr rot geworden?«
    »Kein bisschen.«
    »Was wispert ihr da, Demoiselles?«
    »Wir dürfen eigentlich nicht mehr miteinander sprechen, Onkel Valerian. Darum versuchten wir, leise zu sein.«
    »Ich habe das Gefühl, während meiner Abwesenheit hier wurden einige Arrangements getroffen, die dringend einer Überprüfung bedürfen. Ich werde mich in Kürze mit Madame darüber unterhalten. Gibt es etwas, das ich wissen müsste?«
    »Tante Berlinde hat gepetzt!«, stieß Graciella hervor. »Das mit dem Reiten und Feli und dem Baden und alles. Jetzt gibt Mama Marie-Anna die Schuld daran.«
    »Ah, nun denn. Rosemarie?«
    »Graciella sagte es bereits.«
    »Marie-Anna?«
    »Meine Vergangenheit ist Madame zu Ohren gekommen, vor allem meine Beziehungen zum Theater missbilligt sie.«
    »Ah, daher die Abneigung gegen Comödien. Gut, ich habe nichts dagegen, wenn ihr weiter miteinander arbeitet und lernt wie bisher. Marie-Anna wird selbstverständlich wieder mit der Familie speisen und alle die Rechte haben, die sie zuvor hatte. Entschuldigt mich jetzt.«

    Er verließ die Bibliothek, und Graciella seufzte erleichtert auf.
    »Siehst du, ich hab’ doch gewusst, er richtet das wieder!«
    »Noch hat er nicht mit ihr gesprochen.«
    »Ach sei nicht so eine Unke, Rosemarie. Mama ist wahrscheinlich nur grantig, weil wir uns

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