Der Lilienring
machte leise die Tür hinter sich zu und sah die Dame des Hauses vor sich stehen.
»Oh, Marie-Anna, Sie haben noch mit der Kleinen geplaudert?«
»Ich habe ihr gute Nacht gewünscht, Madame.«
»Kommen Sie, ich habe noch etwas für Sie.«
Ursula Raabe hielt einladend die Tür zu ihrem Zimmer auf. Zögernd folgte ihr Marie-Anna. Anders als die Räume, die sie bisher betreten hatte, war dieser Raum üppig ausgestattet, verschwenderisch waren Samt- und Brokatstoffe als Draperien, Überwürfe und Schabracken verwendet worden. Es passte zu der molligen Frau, dachte sie.
»Sie haben sicher schon gemerkt, dass mein Gemahl auf strenge Diät seiner Angehörigen achtet. Aber so manchmal braucht der Mensch auch ein wenig Balsam für die Seele, nicht wahr? Es ist Ihr erster Tag in unserem Haus. Hier, nehmen Sie das als Betthupfer mit.«
»Danke Madame, aber das ist nicht nötig.«
»Ach, nun nehmen Sie schon. Ein paar Pralinés sind keine Sünde. Und schlafen Sie gut, Marie-Anna.«
Sie bedankte sich und zog sich zurück. In ihrem Zimmer erwartete sie dann eine weitere Überraschung. Auf der Kommode lagen zwei hübsche, marmorierte Hefte, Schreibzeug stand daneben, und sie fand den Hinweis in schwungvoller Schrift, es werde ihr sicher in den ersten Tagen leichter fallen, sich einzuleben, wenn sie einem Tagebuch ihre Eindrücke anvertrauen könne. Daneben stand ein Korb mit rotbackigen Winteräpfeln. Wem sie die Gabe zu verdanken hatte, erschloss sich daraus nicht, aber sie vermutete die Dame des Hauses dahinter.
Es schien, als ob das Leben in diesem Haushalt nicht so unerträglich werden würde.
Sie schlug das Buch auf und nahm die Feder zur Hand.
9. Kapitel
Alltag im Hause des Kommerzialrates
Der Unterricht bereitete Marie-Anna Vergnügen, wenn auch nicht stets ein gänzlich ungetrübtes. Die beiden Kinder Yannick und Guenevere waren auf den ersten Blick gut erzogen und ruhig, aber vor allem in dem Jungen sprudelte eine verborgene Quelle von Schelmerei, von der sich seine Schwester gerne anstecken ließ. Doch beide waren aufgeweckte Persönchen, die, wenn ihr Interesse geweckt wurde, mit Begeisterung bei der Sache waren. Leider lag es nicht in Professor Kleins Macht, diese Begeisterung zu wecken, was dazu führte, dass die ungebändigte Kreativität der beiden sich in ständig neuen Streichen und Listen entlud. Selbstverständlich versuchten sie es ebenfalls bei der neuen Lehrerin. Aber Marie-Anna hatte noch zu deutlich in Erinnerung, wie sie und Charles ihre Hauslehrer zu foppen pflegten. Das festgeklebte Kreidestückchen, die wunderlichen Geräusche unter dem Holzboden, ja selbst die kleine Maus, die mit ängstlichen Augen über die Kante ihres Lehrbuches lugte, konnten sie nicht schrecken. Es war schließlich Guenevere, die quietschend vor dem Tierchen auf den Stuhl sprang und sich das schallende Gelächter ihres Bruders, Graciellas und der Lehrerin gefallen lassen musste.
Nach einer Woche kamen derartige Vorfälle nicht mehr vor, dafür waren die Geschichten zu lustig, die sie gemeinsam übersetzten, und die Lieder zu fröhlich,
die sie zusammen sangen, um das Französische besser aussprechen zu lernen. Selbst das Vokabelnpauken machte auf diese Weise mehr Spaß. Mit Graciella hatte Marie-Anna überhaupt keine Probleme. Das Mädchen hatte einen anspruchsvolleren Unterricht geradezu vermisst, und täglich von fünf bis um halb sieben übte sie sich mit Marie-Anna abwechselnd in englischer und französischer Konversation.
Nach dem Vormittagsunterricht widmete Marie-Anna sich zusammen mit Rosemarie der Aufgabe, den Katalog der Sammlung anzufertigen. Ihnen stand dazu das helle Arbeitszimmer neben der Bibliothek zur Verfügung. Rosemarie machte auf Marie-Anna einen recht stumpfen Eindruck. Nicht nur kleidete sie sich immer in trübe Farben, sondern war auch weder zu einem Lächeln noch zu einem verbindlichen Wort bereit. Sie sprach nur, wenn es unbedingt notwendig war, und dann mit größtem Ernst und – zugegebenermaßen – großem Sachverstand. Ihre Zeichnungen waren außerordentlich sauber und exakt, ihre Schrift fast wie gedruckt. Sie arbeitete flink und ausdauernd.
Dennoch bedrückte Marie-Anna die schweigende Atmosphäre, in der sie beide arbeiteten. Darum versuchte sie an einem der Nachmittage wieder einmal, ein Gespräch mit ihr anzufangen.
»Fräulein Rosemarie, ich komme mit den Beschreibungen nicht so gut zurecht. Ich glaube, meine Italienischkenntnisse reichen nicht dafür aus. Könnten Sie mir
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