Der Lilienring
blieb Marie-Anna einen Moment stehen und betrachtete die zwei Turmstümpfe. Der nördliche, ein Fundament nur, diente einigen Verkaufsbuden als Untergrund. Auf dem südlichen, schon beinahe 50 Meter hohen Turm jedoch bewegte sich oben der langsam verrottende Kran kreischend im Wind. Vor der halb fertigen Kathedrale selbst lungerten ein paar französische Soldaten herum. Eines der windschiefen Häuser diente ihnen als Munitions- und Waffendepot, das sie zu bewachen hatten.
Der fertig gestellte Teil des gotischen Bauwerks, der Chor, diente seit einigen Jahren wieder der Bevölkerung als Pfarrkirche. Zuvor aber hatten die Franzosen Quartier in der Kathedrale bezogen und die Seitenkapellen zu Pferdeställen umgewandelt. Es hieß, sie hätten das hölzerne Chorgestühl dazu verwendet, ihre Lagerfeuer zu nähren.
Eilig überquerte Marie-Anna diesen Platz, schlüpfte durch den finsteren Torbogen, die Hachtpforte, und ließ die dunkle, bedrohliche Masse des Doms hinter sich. Auch in der Nähe der Sous-Préfecture und des Kriminalgefängnisses am Rathaus wollte sie nicht länger als nötig verweilen. Die Straße hingegen, die sie nun nach Süden führte, wurde mit jedem Schritt ansehnlicher. Sie war ordentlich gepflastert und sauber, Equipagen rollten an den Zunfthäusern und den Sitzen der Stadtnobilitäten vorbei. Modisch gekleidete Damen und Herren suchten das Müllersche Kaffeehaus auf. Die Tür der vornehmen Apotheke »Zum Marienbild« öffnete sich, und ein Herr mit einem Arztkoffer wurde von einem sich beflissen verbeugenden Apotheker hinausbegleitet. Es gab auch die verschiedensten Boutiquen, Buchhandlungen und Putzmacherinnen. An der Ecke zur Gürzenichstraße verlangsamte Marie-Anna noch einmal ihre Schritte. Hier hatte sie Jules Coloman das letzte Mal gesehen. Sie hoffte, er würde inzwischen aus dem Gefängnis entlassen sein und einen neuen Aufenthaltsort außerhalb der Stadt gefunden haben. Große Sorgen machte sie sich nicht um ihn, er war durchaus in der Lage, zuverlässig wieder auf seine Füße zu fallen.
Schließlich erreichte sie die Kasinostraße, auf deren linker Seite sich die massige Kirche von Sankt Maria im Kapitol erhob. Das Damenstift, das einst zu ihr gehört hatte, war schon vor Jahren aufgelöst worden, das Stiftsvermögen verkauft, einiges sicher auch verschleppt worden. Die Stiftskirche selbst diente inzwischen als Pfarrkirche, das ehemalige Äbtissinnenhaus war vermietet worden. Angeblich war ein Schriftsteller namens Friedrich Schlegel eingezogen, der dort private Vorlesungen hielt. Von der Kirche aus führte Richtung Westen Marie-Annas Weg in die Sternengasse, eine überaus gepflegte Gegend mit ansehnlichen Gebäuden.
Der Kommerzialrat Valerian Raabe bewohnte das Haus, das sicher zu den berühmtesten dieser Straße gehörte – den Groensfelder Hof. Hier hatte Peter Paul Rubens vor zweihundert Jahren seine Jugend verbracht, hier hatte Maria von Medici vor gut hundertfünfzig Jahren gewohnt. Doch bevor der kaiserliche Feldmarschall Graf von Groensfeld es erworben hatte, hieß das Haus »Zum Raben«. Manche nannten es nun wieder so.
In diesem Haus hielt Marie-Anna am Nachmittag des nächsten Tages Einzug. Das Gebäude beeindruckte sie, es war älter als ihr heimisches Chateau, doch die verschiedenen Bewohner hatten es jeweils an den Stand der Behaglichkeit angepasst, der ihrer Zeit entsprach. Die Haushälterin, in strengem Schwarz mit weißer Schürze und Haube, empfing sie und gab dem wartenden Dienstmann Anweisungen, das Gepäck in ein Zimmer im zweiten Stock zu bringen. Sie selbst stellte sich Marie-Anna mit einem herzlichen Lächeln als Mathilda vor.
Der Raum, der ihr zugewiesen wurde, hatte ein Fenster zur Straße hinaus, die sich in gerader Linie vor dem Haus erstreckte. Er war nicht groß, aber eine helle, geblümte Tapete, geraffte, weiße Gardinen mit blauen Portieren und ein ebenfalls blauer Teppich machten es wohnlich. Möbliert war es mit einem schlichten Messingbett, einem hohen Kleiderschrank, zwei zierlichen Sesseln, einem Tischchen und einer Kommode, über der ein Spiegel hing. Hinter einem Paravent verbargen sich das Waschgeschirr und der Nachtstuhl.
»Das gnädige Fräulein hat das Zimmer gleich nebenan, Mamsell, und Fräulein Rosemaries ist neben dem Gang. Dann folgt das Badezimmer. Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.«
Mathilda führte Marie-Anna den Flur entlang und öffnete die Tür zu einem gekachelten Raum, in dem sich eine Wanne und ein Badeofen befanden.
»Es
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