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Der Lilienring

Titel: Der Lilienring Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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Mädchen heimlich zu und erhielt ein kleines, schelmisches Lächeln zurück.
    »Dies ist meine Nichte Rosemarie«, sagte dann der Herr des Hauses und winkte eine blasse, schlanke junge Frau herbei. Sie hatte schwarze Haare, aber das war schon das Auffälligste an ihr. Ihr Händedruck war schwach, ihr Blick scheu. Ihr Vater, der Professor, gönnte Marie-Anna nur ein kurzes Kopfnicken. Er trug verbitterte Züge und schien nicht besonders gesellig zu sein. Frau Berlinde hatte
sich entschuldigen lassen, eines der Kinder litt unter Magenkrämpfen.
    Man ging zu Tisch, und Marie-Anna konnte feststellen, dass die Prinzipien des Hausherren in jeglicher Konsequenz befolgt wurden. Es gab ein schlichtes, aber sättigendes Essen. Fleischlos, wie es der Fastenzeit entsprach. Einen Gemüseeintopf, Omelette mit Kräutern und Käse und eine süße Quarkspeise zum Abschluss. Es wurde zwar Wein zum Essen gereicht, doch er wurde mit Wasser verdünnt. Dazu wurde französische Konversation gepflegt, was Marie-Anna der Sprache wegen kein Problem bereitete. Allerdings übte sie sich bei der Beteiligung an den gewählten Themen noch in Zurückhaltung. Valerian Raabe bestimmte das Gespräch, und auf Grund seiner wenig tragenden Stimme lauschten alle sehr aufmerksam seinen Worten. Marie-Anna wollte sich zunächst ein Bild davon machen, welche Meinungen in diesem Kreis geäußert werden durften und welche man besser mit Delikatesse behandelte. Als er erzählte, er habe eine interessante Lieferung von einem italienischen Kunsthändler erhalten, bemerkte sie, dass Graciella, die neben ihr saß, gerne etwas wissen wollte, aber zu unsicher war, den Mund aufzumachen. Leise und in sehr einfachen Worten wisperte sie ihr zu: »Sie möchten wissen, was Ihr Papa von dem Italiener gekauft hat, nicht wahr?«
    »Ja, Mademoiselle. Aber mein Französisch ist so schlecht.«
    »Fragen Sie so«, antwortete sie und sagte ihr langsam den Satz vor. In der nächsten Gesprächspause stupste sie sie ermutigend an, und das Mädchen begann schüchtern: »Papa, qu’est que vous...«
    Ein bisschen musste Marie-Anna ihr noch vorflüstern, bis der Satz schließlich heraus war, aber dann war es vollbracht. Der Kommerzialrat hatte aufmerksam zugehört
und nickte seiner Tochter wohlwollend zu. Mit ebenso einfachen Worten erklärte er ihr, dass er ihr die Gegenstände am nächsten Nachmittag zeigen wolle.
    Nach dem Essen zog Graciella sich zurück, und die Erwachsenen kehrten zur Konversation in deutscher Sprache zurück. Marie-Anna hörte auch hier überwiegend schweigend zu und bat dann schließlich, sich ebenfalls zurückziehen zu dürfen. Als sie nach oben ging, sah sie noch Licht in Graciellas Zimmer und klopfte leise an der Tür. Das Mädchen hatte die zwei Kerzen an dem Spiegel brennen und ein aufgeschlagenes Buch vor der Nase, legte es aber sofort nieder.
    »Mademoiselle, das ist aber nett, dass Sie noch einmal hereinschauen. Vielen Dank fürs Vorsagen.«
    »Bald werden Sie das nicht mehr brauchen. Sie werden sich übrigens die Augen verderben, wenn Sie so spät noch lesen.«
    »Ich weiß, ich weiß, aber das hier ist viel spannender als die öden Artikel, die der Professor uns vorzulesen pflegt.«
    »Was lesen Sie?«
    Graciella kicherte: »Ein grausiges Werk. Die Geschichte von einem Mann, der auf einer einsamen Insel gestrandet ist und von dort nicht mehr fortkommt.«
    »Robinson Crusoe?«
    »Kennen Sie es?«
    »Natürlich. Passen Sie nur auf, dass Sie heute Nacht nicht von Menschenfressern träumen, die Ihnen die Nase abbeißen wollen.«
    »Dann schreie ich, und Sie retten mich. Sie haben ja das Zimmer neben mir. Gefällt es Ihnen?«
    »Es ist sehr hübsch, ja.«
    »Vorher hat eine von den Schwestern des aufgelösten Benediktinerinnen-Klosters darin gewohnt, die uns unterrichtet hat. Sie hat versucht, mir ein bisschen
Französisch beizubringen, aber sie hatte – mh – ziemlich wenig Geduld mit mir. Und ich kam mir immer so dumm vor. Wahrscheinlich werde ich auch Ihnen nicht viel Freude machen.«
    »Ich hatte den Eindruck, Sie verstehen schon eine ganze Menge, Fräulein Graciella.«
    »Können Sie nicht Graciella und du sagen? Ich komm mir so komisch vor, wenn Sie mich so anreden.«
    »Wenn du mich Marie-Anna nennen willst, gerne.«
    »Danke, gerne.«
    »Morgen fangen wir mit unserem Unterricht an, nicht wahr?«
    »Ja, nach Onkel Humberts dröger Geografiestunde.«
    »Gut, bis dann also, schlaf schön und gute Nacht, Chérie.«
    »Gute Nacht, Marie-Anna.«
    Sie

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