Der Lilienring
sollte ausgerechnet diese freundliche Geste einen heftigen Streit auslösen.
Das Teetablett stand noch auf dem Tisch, und bunte Papierchen, in die die Bonbons eingewickelt waren, lagen zwischen den Listen und Zeichnungen, an denen sie arbeiteten. Marie-Anna war eben aus dem Zimmer gegangen, um einen silbernen Pokal in den Keller zu bringen, als Ursula Raabe durch die offene Tür lugte und eintrat. Als sie zurückkam, wurde sie Zeuge, wie die Dame des Hauses Rosemarie in verletzender Weise dafür tadelte, gegen die Vorschriften des Hauses verstoßen zu haben. Ja, sie machte ihr sogar den Vorwurf, in ihr Zimmer eingedrungen und die Süßigkeiten entwendet zu haben.
Rosemarie sank wie ein Häuflein Elend zusammen und äußerte kein einziges Wort.
»Madame, Sie sind vollkommen im Unrecht. Die Bonbons habe ich Rosemarie angeboten.«
»Marie-Anna! Sie unterstützen die Naschhaftigkeit dieser kleinen Schmarotzerin? Das hätte ich nicht von Ihnen gedacht!«
Marie-Anna merkte kaum, welch ausgesprochen gebieterische Haltung sie in diesem Augenblick annahm.
»Steht es mir nicht frei, ihr von dem abzugeben, was Sie mir so großzügig geschenkt haben?«
»Sie erhält genug Zuwendungen in diesem Haushalt!«
»Ich erhalte nicht einmal einen Lohn für meine Arbeit, Madame. Ich bin ja nur die arme Verwandte!«
Plötzlich war auch Rosemarie aus ihrer Lethargie erwacht.
»Wer ist die arme Verwandte?«, fragte eine heisere Stimme von der Tür her, und Rosemarie zuckte zusammen.
»Mein Herr Gemahl, hier wird gegen Ihre Anweisungen verstoßen und kostbare Arbeitszeit verschwendet.«
»Das zu beurteilen überlassen Sie bitte mir, Ursula. Ich möchte mit den beiden sprechen. Wir beide, Madame, werden uns anschließend Ihren Abrechnungen widmen. Erwarten Sie mich bitte in meinem Arbeitszimmer!«
Pikiert schenkte die Dame des Hauses den beiden noch einen strafenden Blick und rauschte hinaus. Valerian Raabe musterte das Stillleben mit Teekanne.
»Rosemarie?«
Marie-Anna antwortete, bevor Rosemarie den Mund aufmachen konnte: »Es ist meine Schuld, Herr Kommerzialrat. Ich habe eingeführt, dass wir gegen halb vier eine Kanne Tee zu unserer Erfrischung erhalten, und
habe Fräulein Rosemarie dazu von meinen Bonbons angeboten.«
»Sind Sie mittags nicht satt geworden, Mademoiselle de Kerjean?«
»Doch, natürlich. Tee und Süßigkeiten dienen nicht der Sättigung, sondern dem puren Genuss. Aber, wenn ich das bemerken darf, Monsieur, einem maßvollen und sehr unschuldigen Genuss.«
»Da stimme ich Ihnen zu. Außerdem belebt der Tee die Sinne, was bei einer solch diffizilen Arbeit wie der, die Sie hier leisten, sehr zuträglich ist. Doch sollten Sie gesündere Süßigkeiten essen als die, die aus dem Zimmer meiner Gattin stammen.«
»Ich habe sie nicht von dort genommen, sie sind mir geschenkt worden.«
»Sie hätten mich darum bitten sollen, wenn Ihnen der Sinn danach steht.«
»Ich habe nicht darum gebeten! Sie wurden mir aufgedrängt«
»Sie wollten Sie nicht?«
»Ich mag sie noch nicht einmal. Ein süßer Wecken, oder noch besser ein Schinkenbrot, wäre mir erheblich lieber, Herr Kommerzialrat.«
Er musterte sie scharf und nickte dann.
»Darf ich zusammenfassen, Mademoiselle: Sie haben eigenmächtig in den Tagesablauf meines Haushalts eingegriffen, indem Sie eine Teestunde eingeführt haben. Sie haben ein Mitglied meiner Familie dazu verleitet, ungesunde Süßigkeiten zu sich zu nehmen, die sie selbst ablehnen, und jetzt verlangen Sie in der Fastenzeit fleischliche Nahrung. Bekennen Sie sich schuldig.«
»In allen Punkten der Anklage, Herr Kommerzialrat, da eine Verteidigung ja offenkundig sinnlos ist. Setzen Sie das Strafmaß fest.«
»Eine Verbrecherin in meinem Haus!«
Marie-Anna wurde dunkelrot.
»Marie-Anna, nicht!«, begehrte Rosemarie plötzlich auf. »Herr Onkel, sie hat das nur getan, weil ich sie dazu angestiftet habe! Sie müssen mir die gleiche Schuld zugestehen.«
»Zwei Verbrecherinnen in meinem Haus!«
»Eine, Monsieur, die andere ist nur eine Schmarotzerin und arme Verwandte«, antwortete Marie-Anna trotzig.
»Habe ich es irgendwie verabsäumt, dir ein Taschengeld auszuzahlen, Rosemarie?«
»Sie geben es meinem Vater.«
»Oh, nun... Es scheint, wir müssen das Verfahren ändern. Jetzt macht mit eurer Arbeit weiter.«
Er verließ den Raum, und die beiden sahen sich fragend an.
»Das war sehr couragiert von dir, Marie-Anna.«
»Das war auch sehr couragiert von dir,
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