Der Lilith Code - Thriller
Menschen zu helfen, mit seiner Schuld weiterzuleben. Eine Vergebung ist nicht möglich.
Markus Bassler, Psychotherapeut
Gläubige dürfen nur einmal in das Paradies einkehren. Der Prophet Mohammed weigerte sich deshalb, jemals nach Damaskus zu kommen. So sagten es die Legende und ein Informationsblatt des Hotels, das neben Jan Kistermann auf dem Nachttisch lag. Er war am frühen Abend in der syrischen Hauptstadt gelandet. Nachdem er lange auf sein Gepäck hatte warten müssen, hatte er sich eines der gelben, nicht besonders sicher wirkenden Taxis südkoreanischer Herkunft herangewinkt und vergeblich versucht, mit dem Fahrer, so wie sein Reiseführer mahnte, den Preis im Voraus zu verhandeln. Resigniert hatte er den Namen des Hotels genannt und sich dann dem Fahrer und dem irrsinnigen orientalischen Straßenverkehr ausgesetzt.
Bauruinen, riesige Werbeplakate und immer wieder überlebensgroße Bilder des Präsidenten rauschten vorbei. Eine Stunde dauerte die Fahrt. Der Airport der syrischen Hauptstadt lag weit außerhalb im Süden. Schwarzverhüllte Frauen überquerten die Fahrbahn, achteten nicht auf den Verkehr, wissend, dass jeder Autofahrer für sie anhalten würde. Auf einer staubigen und mit Plastikflaschen verdreckten Verkehrsinsel lagen zwei junge Nomaden mit ihren Ziegen.
Jan Kistermann war jedoch zu müde, um zu staunen. Das Hotel befand sich gegenüber dem Nationalmuseum, was aber nicht der Grund für seine Wahl war. Er suchte eine Oase des Westens inmitten dieser unbekannten Welt. Etwas, das er kannte. Denn diese Hotelkette hatte es geschafft, selbst in den entlegensten Winkeln der Welt denselben zwar nichtssagenden, aber heimatlichen Einrichtungsstatus zu garantieren.Er hatte sich ein Clubsandwich bestellt, dessen Reste jetzt auf einem kleinen Tisch neben seinem Pass und einem Reiseführer lagen. Kaum ein Laut drang durch die doppeltverglasten Fenster herein. Und trotzdem konnte er nicht schlafen. Gerade einmal vier Stunden hatte er in Träume fliehen können. Ja, Flucht, so musste man es nennen. Die Bilder krochen auch in sein Unbewusstsein. So konnte er auch dort nie sicher sein, vor dem Grauen, das ihn nun schon seit einem Jahr verfolgte. »Lernen Sie zu trauern«, hatte der Geistliche empfohlen, die Anleitung aber nicht mitgeliefert. Als Arzt fiel es Jan ohnehin schwer, Hilfe im Glauben zu finden. Menschen leben, Menschen sterben. Hundertfach hatte er das im Krankenhaus erlebt.
Noch eine Stunde lag er so wach, suhlte sich in Erinnerungen und Vorwürfen, bis jemand vom Servicepersonal anklopfte. Er hatte den Do-not-disturb-Hinweis an der Klinke draußen vergessen. Das hatte Andrea immer erledigt. Er stand auf, duschte kalt, rieb sich mit der teuren Bodylotion des Hotels ein, rubbelte sich den Kopf dann härter als nötig mit dem Handtuch ab und schaute in den Spiegel. Seine nassen, kräftigen Haare standen wirr vom Kopf ab, aber nicht ohne Stolz betrachtete er seinen sehnigen und fast fettfreien Körper.
Ohne Frühstück verließ Jan das Hotel, ignorierte die Taxifahrer in der Hoteleinfahrt, die ihm zuwinkten, ging die steil abfallende Zufahrt hinunter und stand vor der Sharia Shukri Quwwatli, einer der Ausfallstraßen der Hauptstadt Richtung Süden. Ein stetig vorbeirauschender Verkehrsfluss – gefühlt zehnspurig. Nach mehreren vergeblichen Versuchen sprang er zwischen eine kleine Lücke des Verkehrs, stolz, die erste Prüfung des Orients überstanden zu haben. Fast fiel er einem alten Mann in die Arme, der ihn anlächelte und wortreich nach rechts wies – auf eine Fußgängerbrücke, knapp fünfzig Meter weit entfernt. Beschämt nickte Jan dem Alten zu.
Er ließ sich treiben, stand plötzlich vor wirren Bettlern mit weißen Augäpfeln ohne Iris, roch sich förmlich in dieStadt und ihre Menschen ein und gewöhnte sich an den dauerhaften Klang der Hupen, des Kommunikationsmittels des modernen Orients schlechthin, das wie eine immerwährende Symphonie über der Stadt lag. Über die Sharia Nasr lief er Richtung Osten auf die Altstadt zu. Er kämpfte sich an Händlern vorbei, die den Bürgersteig bevölkerten, und sah Schreiber, die nicht Schreibkundigen das Verfassen von Briefen und Formularen anboten. Ständig hupte es um ihn herum. Bald schon begann ihn dieses Chaos zu stressen. Erstaunt nahm er eine Rolltreppe wahr, die ihn aus einer Unterführung zum Eingang des Souks führte. Wie das riesige Maul eines Monsters schluckte dieser seine Besucher. Er wich einer seltsam geschmückten
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