Der Linkshänder – DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek: Alex-McKnight-Serie (German Edition)
konnte nicht wissen, daß ich das alles auf der Stelle durchschauen würde.
Das war es, was mir so auf dem ganzen Weg auf der I-96 und dann auf der I-275 nach Farmington durch den Kopf ging. Ich fand das Viertel sofort. Auf der Corriedale Street zur Romney Street. Sobald ich um die Ecke bog, sah ich die beiden Wagen auf der Einfahrt.
Der Streifenwagen des Chief stand zur Garage hin, der frische Kratzer auf der Beifahrerseite war nicht zu übersehen. Harwoods Freizeitmobil stand direkt dahinter. Andere Wagen waren auf der Einfahrt nicht zu sehen, schließlich waren sie ja alle zur Zeit in Orcus Beach.
Ich fuhr am Haus vorbei, wendete und parkte auf der Straße. Ich blieb im Wagen und beobachtete das Haus eine Weile. Niemand kam oder ging. Nichts geschah. Wie ich da saß, fiel mir plötzlich ein, daß Whitley genau das gleiche getan, vielleicht sogar exakt an derselben Stelle gesessen und das Haus beobachtet hatte.
Eine Stunde saß ich so da. Zwei Kinder fuhren auf ihren Rädern die Straße entlang. Einige Autos kamen vorbei. Irgendwo bellte ein Hund. Ansonsten war es ein ruhiger milder Abend in der Vorstadt. Bewegungslos standen die beiden Wagen auf der Einfahrt. Ich starrte auf den Kratzer an Chief Rudigers Wagen; der Anblick hypnotisierte mich regelrecht. Man brauchte keine Wahrsagerin, um zu wissen, daß drinnen im Haus etwas fürchterlich verkehrt war.
Jetzt hätte ich wegfahren sollen. Das hätte ich tun sollen.
Ich habe es nicht getan.
Ich stieg aus dem Auto und ging zum Haus hin. Der wunderschöne Apriltag war fast vorüber, die Wärme der Sonne schon lange verschwunden. Es waren keine Nachbarn draußen, die mir zusahen, wie ich die Einfahrt entlang zur Haustür ging. Als ich dort war, sah ich, daß sie einen Spalt offen stand. Ich stieß sie auf und ging nach drinnen.
Stille.
Ich ging durchs Wohnzimmer, dann weiter ins Eßzimmer.
Kein Lebenszeichen. Nichts.
Die Treppe. Ich kannte diese Treppe. Ich trat näher und spähte um die Ecke nach unten.
Ein Rad.
Das hätte mir genügen sollen. Ein Rad. Das war alles, was ich zu sehen brauchte. Aber ich ging weiter. Eine Stufe nach unten. Die Stiege knarrte. Ich blieb stehen. Noch eine Stufe. Wieder knarrte es. Mit jeder Stufe sah ich mehr vom Rollstuhl. Er lag umgestürzt auf der Seite.
Er war leer.
Ich ging weiter, Stufe für Stufe. Ich sah ein Bein, dann noch eins. Und dann das Blut.
Zwei Männer vor der Wand, jeder mit einem Arm in Handschellen. Die Handschellen waren an einem Metallring an der Wand festgemacht. Derselbe Ring in der Wand, dieselben Handschellen. Zwei Männer. Whitley und Harwood. Was von ihnen übrig war. Jeder von ihnen von einer Schrotflinte zerfetzt. So sieht das dann aus. Überall Blut. Der Geruch von Tod und Blut. Dieser zutiefst böse Anblick in all seiner Nacktheit.
Die Hülsen von Schrotpatronen auf dem Boden. In den Blutlachen.
Schau nach rechts. Da ist noch mehr. Chief Rudiger, der Mann, den ich – wieviel? – Stunden zuvor noch gesehen hatte. Der Kopf zerschmettert. Weggeblasen. Alles auf dem Spiegel hinter ihm, rosa und rot. Er liegt auf der Stemmbank. Die Schrotflinte hängt von seinem Körper zu Boden, ein toter Finger hat sich am Abzug verhakt.
Auf dem Boden ein Stück Papier. Eine Ecke saugt sich voll mit Blut.
Der Chief wollte sie anrufen. Das waren seine letzten Worte mir gegenüber gewesen. Er wollte vom Fußboden hochkommen und Maria anrufen. Wenn er es geschafft hatte, sich vom Boden hochzuarbeiten und sie anzurufen, was war dann als nächstes passiert? Wie lange hatte sie wohl gebraucht, um ihre Chance zu erkennen? Zu sehen, wie alles für sie fertig dalag? Alles wasserdicht. Sie ruft Leopold an. Er weckt die Familie. Sie beladen Leopolds Kleinlaster, Delilahs Wagen, Anthonys Wagen. Die ganze Familie fährt nach Orcus Beach, mitten in der Nacht, genau wie Maria gesagt hat. Ist der Chief schon in Marias Haus, als ihre Familie eintrifft? Vielleicht ist er da. Vielleicht hat Maria ihn gebeten zu kommen, und er hat sich irgendwie zusammengerissen und ist rübergefahren. Vielleicht mußten ihn Leopold und Anthony aber auch holen. In beiden Fällen hat er das Stück Papier dabei. Eigenhändig beschrieben. Er hatte es mitgebracht, oder es hatte auf dem Tisch gelegen, als sie ihn abgeholt haben. Und die Schrotflinte. Vergiß die Schrotflinte nicht. Sie verfrachten ihn auf den Hintersitz seines Streifenwagens, fahren ihn nach Farmington. Zwei Autos. Anthony fährt hinter Leopold her, der im Streifenwagen sitzt.
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