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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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Küchendecke wegfegen; plötzlich waren bei ihr zu Hause der Frühjahrsputz angesagt und die vorweihnachtliche Kocherei − dabei waren all diese Arbeiten nicht nötig. Hilde fürchtete sich bloß vor dem violetten Licht, das nun die Macht in ihrem Staat ergriffen hatte.
    Opa Monte Cassino musste im Krankenhaus rasiert und gewaschen werden: Bartek war deshalb an diesem Dienstagmorgen früher als gewöhnlich aufgestanden. Sein Vater nahm ihn mit ins Krankenhaus, sodass Anton später allein zum praktischen Unterricht in den Werkstätten an der Luna gehen musste. Barteks Freund hatte aber Verständnis für die missliche Lage, in der sich das Schusterkind befand. Wenn die Väter schwer krank waren, sich aus eigener Kraft nicht mehr waschen und rasieren konnten, schämten sie sich; sie schämten sich so sehr, dass selbst ihre schwere Krankheit augenblicklich bedeutungslos wurde, mochte sie auch unwiderruflich grausam sein. Und wovor schämten sie sich? Wovor? An diesem frühen Dienstagmorgen war Bartek das klar geworden: Die zarten jungen Hände der Krankenschwestern jagten ihnen Angst ein, und sie wollten von diesen zarten jungen Händen nicht angefasst werden, weil sie ihnen »in Reih und Glied« (wie es Opa Franzose ausdrückte) nichts mehr zu bieten hatten – außer einem halbtoten entmannten Körper.
    Die Oberkrankenschwestern waren normalerweise unüberwindbare Bollwerke, sie verteidigten ihre Krankenstation wie ihr eigenes Haus und erlaubten oft keine Besuche bei ihren Patienten – selbst dann nicht, wenn man sie mit einer kleinen Aufmerksamkeit wie Kaffee oder Schokolade zu bestechen versuchte. Barteks Vater hatte aber keine Mühe, die Station, auf der Opa Monte Cassino lag, zu betreten − er kannte die Stationsschwester aus seiner Schulzeit. Und dann, als es so weit war, rasierten Bartek und sein Vater Monte Cassino, der ganz still war, und sie rasierten ihn mit seinem Rasiermesser, das er in der Schusterwerkstatt einmal in der Woche an einem Ledergürtel zu schärfen pflegte. Sie rasierten ihn, und er sagte nichts, schloss nicht einmal die Augen, er schaute ihnen beim Rasieren zu, weil er wusste, dass sie ihn für den Tod rasierten, weil er wusste, dass der Tod seine glattrasierten Wangen begehrte und liebte. Und nachdem sie Monte Cassino rasiert hatten, wuschen sie ihn; sie wuschen seine Beinstümpfe, wuschen seine Hände und seine Brust, sie wuschen seine Arme und drehten ihn auf den Bauch, sie drehten das Postpaket, das schon bald dem Tod geschickt werden sollte, und sie wuschen Monte Cassinos Rücken und Nacken. Barteks Vater beteuerte unablässig, dass er jeden Morgen ins Krankenhaus kommen würde, jeden verdammten Tag. Er sagte: »Ich werde dich waschen und rasieren, und auch Bartek wird dich waschen und rasieren!«
    Erst beim praktischen Unterricht in den Werkstätten des Mechanischen Technikums fiel Bartek wieder ein, was ihm Opa Franzose im Café Wenecja über den Wassermann Krzysiek und seine Affäre mit der minderjährigen Mariola gesagt hatte – Bartek bezweifelte es jedoch, ob es eine richtige Affäre gewesen war. Ihm sträubten sich die Haare, sein Herz blieb stehen, schlug nicht mehr bei all den wirren Gedanken, da es sich bei jener Affäre wohl eher um eine Vergewaltigung gehandelt hatte. Sein Vater hatte Herrn Lupickis Tochter entjungfert, sie womöglich geschwängert, doch wer konnte schon genau wissen, was sich damals zwischen Mariola und Krzysiek abgespielt haben mochte? Vielleicht musste Bartek die Stadthure Marzena befragen, vielleicht besaß sie genauere Informationen als die, die ihm der Franzose in seinem Weinbrandrausch von Wenecja als großartige Wahrheiten aufgetischt hatte. Gewiss würde Bartek es nie wagen, mit seiner Mutter über Mariola und über die erotischen Kavalkaden, die schweinischen Überschwemmungen des Wassermanns zu sprechen: Er wollte seiner Mutter nicht wehtun.
    Bete zu Gott, Krzysiek, dachte Bartek, als er nach dem praktischen Unterricht zu Oma Olcias Wohnung ging, in der ihn ein warmes Mittagessen erwartete, bete zu Gott, Krzysiek, denn ich werde dich nicht rasieren und waschen, wenn dich eines Tages das violette Licht des Johanniter-Krankenhauses zum Sterben zwingen wird! Das kannst du dir abschminken ! Ich werde dich nicht rasieren und waschen!
    Auf dem Kohleherd stand eine Suppe, die er warm machen musste. Opa Franzose war nicht da. Bartek aß die Suppe, aß eine Scheibe Brot und las die Tageszeitung aus Olsztyn. Er spülte den Teller, ging in Oma Olcias

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