Der Lippenstift meiner Mutter
selbst seine Aktion »Unde malum« in die Hand nehmen und meinetwegen ganz Dolina Ró ż in einen Atompilz verwandeln!
Oma Hilde, die sich wegen ihres todkranken Mannes mit migräneartigen Kopfschmerzen herumschlug und die nachts kaum schlafen konnte, war für den deutschen Spion aus Amerika kein großer Trost. Er sollte in ein Gefängnis in Warschau verlegt werden, und nachdem alle Dokumente unterschrieben worden waren, durfte die Dolmetscherin mit ihrem Enkel das Milizrevier verlassen. Die mal verängstigt, mal kämpferisch dreinschauenden Augen des Spions würde Bartek nie vergessen. Er sagte zu Oma Hilde: »Obwohl dieser Mann zu uns aus der großen Welt gekommen ist, hat er die Milizoffiziere genauso dämlich angeglupscht, wie es auch meine Mitschüler aus dem Technikum oder die Kühe auf der Wiese tun, wenn ich vor ihnen stehe.« − »Die Angst kann selbst aus einem König einen Bauerntölpel machen, Bartu ś «, antwortete ihm Hilde. »Dem Franzosen will ich nichts Böses wünschen, aber ein bisschen Angst vor Gott und dem Teufel hätte ihm nicht geschadet …«
Monte Cassinos Zustand habe sich kaum gebessert, sagte sie vor der Schusterwerkstatt unter Tränen und zum Abschied, es sei eigentlich noch schlimmer geworden, sie habe sogar für den morgigen Tag den Pfarrer J ę drusik wegen der letzten Ölung und auch den Pastor von ihrer Kirche bestellt. Ihre größte Sorge war, wie sie ihren Mann unter die Erde bringen solle – katholisch oder evangelisch? Monte Cassino habe sich von Luther abgewandt, habe »auf-Teufel-komm-raus« ein Pole sein wollen. Und wo bekomme man in solchen schwierigen Zeiten einen schönen Sarg aus Eichenholz? Wo? Und die Nägel erst! Die Nägel!
Hilde war in Eile, da ihre beste Freundin − ja, Olcia war auf einmal ihre beste Freundin geworden – alle Hände zu tun und Hilfe bei ihrer Hausarbeit nötig hatte. »Und du, Bartu ś , geh auch nach Hause, Herr Lupicki kann dich heute nicht gebrauchen. Ich habe ihn noch nie weinen sehen … Seit mein Monte Cassino weg ist, weint er … Vielleicht ist er doch kein Chassid – allerdings muss man sich dann fragen, warum er in den Gulag musste! Seine Eltern waren Juden, und dann Trotzkisten und dann Polen! Was für eine Welt! Bei seinen Eltern sollte sich der alte Lupicki für die Ferien im Gulag bedanken … Und die Wahrheit wird mein Monte Cassino mit ins Grab nehmen …«, schluchzte sie. »Er kennt die Wahrheit – Tote kennen die Wahrheit!«
»Oma – er lebt noch!«, warf das Schusterkind ein. »Er wird leben!«
»Er kommt nicht mehr zurück – du kennst unser Johanniter-Krankenhaus … Er kommt nicht mehr zurück … Nicht einmal im Rollstuhl …«
Bartek hatte Hildes Ratschlag verstanden und auch sofort in die Tat umgesetzt: Anstatt bei Herrn Lupicki anzuklopfen, drehte er sich auf der Ferse in die andere Richtung und ging in die hereinbrechende Nacht – er ging zu der Stalinistin und zu Opa Franzose, er ging an dem Wolkenkratzeraspiranten vorbei und sah, dass bei Marcin Licht brannte und dass dieses Licht ab und zu seine Farbe pulsierend und ekstatisch änderte wie ein Quasar. Der Aristokrat des Denkens und Handelns sah sich wohl einen Videofilm an in seinem privaten Kino. Und Bartek ging weiter, ging durch die verschneite Nacht von Dolina Ró ż und vermisste nicht mehr die Stimme seiner Geliebten Meryl. Das Städtchen schwieg ebenfalls, es wollte ihn nicht ansprechen, aber er sah, dass die Häuser − die Einkaufsläden, Wohnblöcke, Schul- und Amtsgebäude – ihn wohlwollend anblickten, als hätten sie sich an die fremde Rasse, die ihren Kontinent vom Übersee her überschwemmt hätte, gewöhnt. Und er ging gar nicht so wie sonst, wenn er zu seinen Eltern ging: schwerfällig, gelangweilt, abgekämpft – in der einen Hosentasche der neue Lippenstift für die Mutter, in der anderen die Schachtel Zigaretten für den Vater, in der Hand die Packung mit den Antibiotika für Quecksilber, unglücklich darüber, dass er für die kleinen Botengänge gezeugt worden war und für den Sozialismus und für den Gott im Himmel und für die Drehmaschinen, die er an grauen Samstagen zur Strafe putzen musste. Heute ging er anders, denn er ging nicht nach Hause zu seinen Eltern, sondern zu Natalia Kwiatkowska, der Stalinistin, die in einem anderen Raum- und Zeitkontinuum lebte. Das Lunatal hatte einen Doppelgänger. Dort in diesem anderen und für die meisten Bewohner von Dolina Ró ż unsichtbaren Tal marschierte die Stalinistin mit ihren
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