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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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gewöhnlich, schnoddrig-kalt, ohne Pardon – du Schusterkind, du blauäugiges Schusterkind, mich kriegst du nicht, ich bin etwas Besseres, ich bin ein Geschenk für meinen jungen Doktor! So klang Mariolas Musik.
    »Niemand wird dir glauben, was du heute Morgen in der Schusterwerkstatt erlebt hast«, sagte sie und führte ihn zu Monte Cassino.
    Der Franzose stand an seinem Bett, aber als er Bartek erblickte, erklärte er ruhig, er wolle sie beide nicht stören und würde unten, bei der Rezeption, auf ihn warten. Und verließ die Station.
    »Tag«, sagte Bartek, nachdem der Franzose weggegangen war.
    »Mein Sohn, mein Schusterkind!«, freute sich Monte Cassino; er sprach leise – auf seiner Station lagen noch andere Männer. »Meine letzte Stunde hat geschlagen! Deshalb wollte ich dich unbedingt noch einmal sehen …«, begann sein Opa wieder, als sich Bartek auf die Bettkante setzte. »Und denk dran! Du darfst kein Schuster werden und auch kein Eisenbahner«, erklärte er mit heiserer Stimme. »Komm zu mir, komm näher – ich höre dich nicht …«
    »Ich habe nichts gesagt …«, antwortete das Schusterkind. »Ich soll kein Schuster und kein Eisenbahner werden, hast du gesagt.«
    Und wie Monte Cassino das gesagt hatte! Ohne Worte, ohne Sprache! Mit dieser Bitte, die eine Aufforderung war, hatte sich Monte Cassino von der Welt verabschiedet, und Bartek wurde klar, dass Monte Cassinos Herz, sein Herz, gesprochen hatte. Wie ein Postpaket lag er in dem metallenen, weiß lackierten Krankenhausbett, zugedeckt bis an das Kinn, und da er seine Hände und Arme unter der Bettdecke versteckt hielt, hatte Bartek den Eindruck, dass von seinem Opa Monte Cassino nur noch wenig übriggeblieben war. Sein Kopf bewegte sich noch, aber die Beinstümpfe und die Arme nicht mehr, und den Rollstuhl hatten schon die Leichenwäscher zum Verschrotten abgeholt. Oder waren es der Gärtner und der Hausmeister gewesen, die beide für einen reibungslosen Betrieb im Krematorium sorgten? Und wie konnten die Ärzte feststellen, dass ihr Patient Monte Cassino einen schweren Herzinfarkt erlitten hätte und seine Stunden gezählt wären? Wo waren ihre Messinstrumente? Wo die ganze Apparatur, die Bartek aus dem Kino Zryw kannte? Hier in dem ehrwürdigen Gebäude des Johanniter-Ordens gab es unzählige Betten, Rollstühle, Skalpelle und Tropfständer, jedoch keine Elektrotechnik aus einem Flugzeug. Zum Sterben kamen die Patienten hierher, oder zum Gebären − dazwischen gab es nichts anderes.
    »Und jetzt geh – geh, Bartu ś !«, sagte das violette Licht des Johanniter-Krankenhauses. »Ich muss deinen Opa bei mir behalten, sein Herz gehört bald mir …«
    Oma Olcias Kleiderschrank und Natalia Kwiatkowskas zweite Rede (gegen die Schüler, Lehrer und Dichter)
    »Dummheit frisst, Intelligenz säuft: Wir gehen ins Café Wenecja« , sagte der Franzose vor der Rezeption des Johanniter-Krankenhauses. »Ins Wenecja werden wir gehen und auf Monte Cassinos Gesundheit einen Weinbrand trinken … Der Lümmel will nicht mehr, und ich will eigentlich auch nicht mehr … Du verstehst das noch nicht, was es heißt, wenn man nicht mehr will …«, lachte er. »Du weißt dann nur eines: Deine Geliebte schmeckt dir nicht mehr, und du hast es satt, Winter für Winter auf die Sonne zu warten, den Zug Richtung Toru ń und Pozna ń zu besteigen, um am anderen Ende deiner Geschichte wieder dich selbst zu finden … Du hast es satt, dort auszusteigen, wo du nach wie vor unveränderlich und sterblich bist, wie der Ort, der dich geboren hat. Wir gehen ins Wenecja , früher bin ich gern ins Wenecja gegangen, Frauenbeine angucken, Radio hören, Weinbrand schlürfen, Zigaretten rauchen, Zeitung lesen – ach, das Leben! Wir gehen! Gehen wir ins Wenecja … Gehen wir!«
    Im Café floss dann der Weinbrand schon nach dem ersten Trinkspruch auf Monte Cassinos Gesundheit von Glas zu Glas, von Flasche zu Flasche, von Mund zu Mund, und die Kellnerinnen flossen und schwammen in diesem Weinbrandfluss mit, genauso wie die Zeit dahinfloss und nicht aufhörte zu fließen und zu schwimmen. Bartek durfte auch zwei Gläschen in die Kehle kippen, er zierte sich nicht, als ihm Opa Franzose den Weinbrand eingegossen hatte. Schließlich war er ein Mann geworden – er hatte letzte Woche Kühe im Molotowcocktailfeuer sterben gesehen und heute einen fünfundzwanzigjährigen Lippenstift kennen gelernt, von einer begehrenswerten Krankenschwester, die ihn von innen ausgehöhlt hatte wie einen Kürbis.

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