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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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Schlafzimmer und öffnete den Kleiderschrank. In ihrem Kleiderschrank gab es Geld. Das Geld, das sie zwischen den Bettlaken versteckte, brauchte er aber nicht. Er suchte nach alten Briefen und Postkarten, und er wusste nicht, wonach er suchte. Er wollte Beweise finden. Beweise für die Unschuld seines Vaters. In einem Schuhkarton fand er Briefe, Postkarten und Fotos. Aber keine Beweise für die Unschuld des Vaters.
    Wenn sich Olcia, was selten passierte, einen neuen Rock oder eine neue Bluse gekauft oder von der Schneiderin Sadowska abgeholt hatte, schlief sie in diesen Sachen in der folgenden Nacht – für eine einzige Nacht zog Olcia sie an, weil sie sich so sehr über die Hose oder das Hemd freute. Ihre bombastischen Sonntagskleider und -kostüme, die sie vor allem in der Kirche trug, verglich Onkel Fähnrich mit seinen Ausgehuniformen, nur dass Olcia dem Papst Johannes Paul II. und er dem General Jaruzelski diente, meinte der Funker aus der Gelben Kaserne. Und als Bartek ein kleiner Junge war, spielte er mit seiner Mutter oder seinen Großeltern mütterlicherseits Blindekuh und versteckte sich oft in Olcias Kleiderschrank und später in demjenigen seiner Mutter. Stasias Röcke, Strümpfe, Büstenhalter und Höschen eigneten sich ausgezeichnet für eine Moderevue, die das Schusterkind manchmal veranstaltete, allerdings war Meryl Streep sein einziger Gast. Die Mutter wunderte sich ab und zu darüber, dass ihre Unterwäsche immer wieder verschwand oder bereits nach kurzem Tragen Löcher und Risse aufwies. Sie musste schweigen, ihre Vermutungen für sich behalten; sie hatte Liebhaber und durfte sich keine Fehler leisten. Krzysiek hätte sie sonst erschlagen.
    Plötzlich hörte Bartek, wie jemand die Eingangstür aufschloss und in den Flur trat, und er hörte auch zwei Stimmen – und was für Stimmen! Mariola und der Franzose sprachen laut miteinander, sie fühlten sich von niemandem bedrängt und behelligt, sie lachten und waren bester Laune. Umgehend kroch das Schusterkind in den Kleiderschrank von Oma Olcia, schloss von innen die Türen, die sich gar nicht richtig schließen ließen, und hielt die Luft an, als würde es beim Tauchen in der Badewanne die Zeit messen wollen; Bartek zählte die Sekunden: eins, zwei, drei … sieben – bei acht atmete er wieder tief durch und spürte, wie seine Stirn kalt wurde, die Stirn und die Ohrläppchen. Ich ersticke! Ich ersticke!, sagte er sich und biss sich auf die Zunge, als er die unerwarteten Gäste in das Schlafzimmer von Olcia einfallen hörte.
    »… und du bist dir sicher, dass deine Frau erst am Abend nach Hause kommt?«
    »Ich bin mir hundertprozentig sicher!«, antwortete der Franzose. »Und nun zur Sache, mein Täubchen − zieh dich aus, mach schon! Hü, hü! Der Marschall Pi ł sudski will jetzt Bigos kochen!«
    »… und Bartek? Wo mag er sich herumtreiben?«
    »Mein Enkel ist wie der Wind – er ist bestimmt mit seinen Freunden unterwegs. Hü, hü! Verspeisen sollst du mich, mein Täubchen, verspeisen mit Haut und Knochen, mit Säbel und Orden!«
    In Olcias Kleiderschrank war es genauso düster wie in der Kirche, wenn sich die Winterabende beim Beten in die Länge zogen und der Pfarrer J ę drusik Strom sparte, wie die Regierung, die er angeblich hasste, obwohl das Hassen des Teufels Domäne war. Und in dieser heiligen und sozialistischen Düsternis des Kleiderschrankes musste Bartek wieder lernen, leise zu sein, durch die Haut zu atmen, durch seine Kleidung – Mariola und der Franzose waren aber nicht leise, und Bartek hörte all die Geräusche, die er schon am gestrigen Morgen in der Totenkammer gehört hatte: das Jauchzen und Stöhnen von Mariolas Lippenstift. Es war das Begehren, das diese Lippenstiftgeräusche hervorbrachte und wieder stoppte: In der Düsternis des Kleiderschrankes von Oma Olcia war es plötzlich still geworden, und Bartek wäre beinahe eingeschlafen. Auf einmal hörte er aber einen Satz, der ihn wieder wachrüttelte: »Wenn du dich noch einmal an meinen Enkel heranmachst, schneide ich dir die Kehle durch …«
    Mariola lachte und sagte: »Und wenn du es nicht tust, werde ich mich an Krzysiek wenden – dein Schwiegersohn ist mein Liebhaber. Er ist nicht so zimperlich wie du: Er wird mir die Kehle durchschneiden!«
    »Was?«, staunte der Franzose. »Nach all dem, was du mit ihm durchgemacht hast? Nach all dem, was er dir angetan hat, lässt du dich von ihm erneut verführen?«
    »Was habe ich mit ihm durchgemacht? He?! Was weißt du

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